Essay: Weißt Du Bescheid?

Enjoy Jazz/Rhein-Neckar-Zeitung

Jazz bringt Menschen zusammen, die voneinander lernen wollen, um die Welt da draußen zu verändern – auch das ist „Knowing“.

Schon im Untertitel klang Stolz mit: „Detroit‘s first magazine for black awareness“ nannte sich das Magazin Tribe, das von 1974 bis 1977 in der US-amerikanischen Musik-Metropole zu kaufen war. Für 35 US-Cent konnte man hier jeden Monat Analysen zur schwierigen Lage der afroamerikanischen Community im US-Kapitalismus oder Abhandlungen über die Entstehungsgeschichte der Motorcity Detroit lesen – neben Interviews mit Jazzgrößen wie Donald Byrd, Herbie Hancock oder Sun Ra, schließlich war Tribe das offizielle Magazin eines gleichnamigen Avantgarde-Jazzlabels.

Tribe Records war Anfang der 1970er von einem Musiker:innen-Kollektiv als Plattform für wirtschaftliche und künstlerische Selbstermächtigung aus der Taufe gehoben worden. Und nachdem die Programmhefte zu Auftritten von Tribe-Musikern wie Doug Hammond, Marcus Belgrave, Phil Ranelin und Wendell Harrison dank langer Texte immer ausufernder geworden waren, entstand daraus schließlich ein eigenständiges Magazin. Mit einer Auflage von gerade mal 25.000 Exemplaren war Tribe in Detroit, wo zu jener Zeit 1,5 Millionen Menschen lebten, ein Special-Interest-Blatt. Es sollte eine junge, radikal denkende Schwarze Szene mit Wissen und Informationen versorgen – die Eingeweihten, die sich für Avantgardejazz, Black Power und Politik interessierten. Doch Redaktion wie Leserschaft vereinte der Anspruch, nach dem Lesen aktiv zu werden, um im Kleinen wie im Großen etwas zu verändern. Zum Guten, natürlich.

Schwingen in Wellen

So wie das Jazz-und-Politik-Magazin Tribe samt Leserschaft schwingt auch die endlos vielfältige Musik Jazz in Wellen: Erst der Austausch in mehr oder minder geschlossenen Zirkeln, anschließend konkrete Veränderungen – seien es neue Stile und Subszenen oder handfeste ökonomische beziehungsweise politische Umwälzungen. Immer schließen sich dabei Musizierende, die Grenzen einreißen wollen, und ein verständiges Publikum, das die historische Fracht des Vorangegangenen schon bewältigt hat, zusammen, um untereinander Wissen zu transferieren. Auch dieses voneinander Lernen und die Weitergabe des Erlernten in einem Möglichkeitsraum gehören zur sozialen Dimension des Jazz, auf die der Schriftsteller und Musikkritiker Amiri Baraka bereits vor mehr als 60 Jahren hingewiesen hat. Und sie sind auch ein Aspekt von „Knowing“, dem Motto der diesjährigen Ausgabe von Enjoy Jazz: Weißt du Bescheid? Verstehst du? Und was machst du jetzt daraus, da draußen? Denn im eigenen Saft sollte natürlich niemand schmoren.

Mit der Wirksamkeit nach außen verhält es sich bei einer weitgehend instrumentalen Musik wie Jazz natürlich etwas knifflig. Hier erklingen ja keine geradlinigen Protestsongs oder Bürgerrechtshymnen zum Mitsingen, sondern mitunter recht komplexe Musikstücke – die aber zu Debatten oder im Idealfall sogar zu einer neuen Haltung zur Welt anregen können. Wie wirksam das sein kann, zeigte sich etwa an der Energie, mit der Jazz zur Zeit des Kalten Kriegs im gesamten Ostblock Andersdenkende vor und hinter den Instrumenten zusammenbrachte, die dann Ideen, Informationen und Ideale austauschten. Eben weil ihre Musik weitgehend ohne Worte auskam, wussten die Zensoren meist gar nicht, wo sie denn die Schere ansetzen sollten.

Ähnlich sah es zur selben Zeit im damals noch streng rassengeteilten Südafrika aus: Unter der Apartheid traf sich die unterdrückte Schwarze Mehrheit in Shebeens, illegalen Hinterzimmer-Bars, um dort zu US-amerikanischem Jazz zu tanzen. „The struggle for jazz, jazz for the struggle“, hieß es damals, also: „Der Freiheitskampf für Jazz, Jazz für den Freiheitskampf“. Seit den 1930ern brachten Seeleute regelmäßig die neusten Platten in die Häfen von Durban oder Kapstadt. Und die Südafrikaner:innen verstanden, was die Schwarzen US-Amerikaner:innen auf der anderen Seite des Atlantiks ihnen mitzuteilen hatten – ganz ohne Worte.

Direkter Eingriff

Auch in seinem Mutterland griff die Wissenstransfermaschine Jazz zu jener Zeit immer direkter ins gesellschaftliche Leben ein. Afroamerikanische Kollektive wie die bereits erwähnen Tribe in Detroit, aber etwa auch Strata-East in New York, die Black Artists Group in St. Louis oder die Association for the Advancement of Creative Musicians in Chicago organisierten nicht nur Konzerte – sondern auch Teach-ins, Workshops, Lesezirkel oder Vortragsreihen. So brachten sie Wissen zu Menschen, die zu jener meist nur wenig Zugriff auf andere Informationsressourcen hatten.

Heute erwirbt man Jazzwissen und Wissen durch Jazz natürlich nicht mehr ausschließlich in spelunkigen Hinterzimmer-Bars, zugigen Lofts oder verrauchten Kellerclubs – also im, manchmal ganz wortwörtlich, Untergrund. Man kann die Musik ja sogar studieren. Trotzdem geht der von ihr angetriebene Wissenstransfer weiter: „Jazz is the teacher“ hat das deutsch-amerikanische Technoprojekt M5003MB schon 1993 eine seiner Platten genannt, und auch der Rapper Kendrick Lamar, Pulitzer-Preisträger von 2018, hat hier viel gelernt und auf seinen Alben mit Jazzmusikern wie dem Saxophonisten Kamasi Washington zusammengearbeitet. In Technoclubs, bei Hip-Hop-Konzerten, im Jazz-Underground: Hier versammeln sich weiter die, die Bescheid wissen. Die verstehen. Und die etwas verändern wollen.