RICHIE, DEINE ARBEIT IST SELTSAM WIDERSPRÜCHLICH. EINERSEITS ORGANISIERST DU ALS DJ UNTER DEINEM GEBURTSNAMEN GEMEINSCHAFTSERLEBNISSE FÜR TAUSENDE VON MENSCHEN. ANDERERSEITS PRODUZIERST DU ALS PLASTIKMAN EINE SORTE VON TECHNO, DIE VOR ALLEM VON DER EINSAMKEIT DES SUBJEKTS ERZÄHLT.
Man kann schon sagen, dass meine Plastikman-Platten düster, kahl und fokussiert auf Technologie sind. Es geht immer um die kleinen Fluktuationen und Veränderungen. Darum, das meiste aus nur wenig Information zu machen. Klassischer Minimalismus halt. Das Menschliche ist dabei meist abwesend, weil es schon zu viel Information wäre. Und wenn es doch mal da ist, wie bei meiner letzten Plastikman-LP (»Closer«, auf der Hawtin 2003 erstmals erkennbar seine Stimme einsetzte, Anm. d. A.), dann ist es auf sich gestellt und einsam.
WOHER KOMMT DIESES MOTIV?
Vor allem von der anderen Seite meiner Arbeit, dem DJ-Sein. Mein Leben besteht darin, konstant nach neuen Klängen zu suchen und diese Klänge Menschen vorzuspielen. Ein wichtiger Teil dieses Jobs sind Reisen, viele Reisen, die mich weg von meinen Freunden führen. Ich bin insgesamt vielleicht zwei bis drei Monate im Jahr wirklich zu Hause. Und ansonsten unter Menschen, die zwar nett zu mir sind, die mir aber meine Einsamkeit nicht nehmen können, weil sie mir trotz aller Freundlichkeit sehr fern sind. Das ist manchmal ziemlich hart.
DANN KÖNNTEST DU JA AUCH EINFACH DAMIT AUFHÖREN.
Das ist ein inneres Tauziehen. Manche Menschen sagen mir, ich solle mal etwas langsamer machen, und es sei ja nun kein Zufall, dass ich Single bin. Sie sagen: »Wenn du eine Freundin finden willst, musst du länger an einem Ort bleiben.« Manchmal denke ich, dass sie Recht haben. Aber andererseits glaube ich nicht, dass es wirklich meine Mission ist, lange an einem Ort zu bleiben. Ich liebe das, was ich tue. Das ist meine Berechtigung, um auf der Welt zu sein: diese Ideen umherzutragen.
DAS IST EIN KLASSISCHES KÜNSTLER-BILD: DER BESESSENE MISSIONAR, DER EIN AUFREGENDES LEBEN FÜHRT – UND EINEN PREIS DAFÜR ZAHLEN MUSS.
Natürlich ist so ein Leben irgendwie glamourös. Man sieht viel von der Welt, man lernt interessante Menschen kennen. Aber es hat eben auch seine Kosten. Man ist oft fürchterlich einsam dabei. Ich habe in den vergangenen Jahren den Kontakt zu vielen alten Freunden und Bekannten verloren. Das passiert uns allen, wenn wir älter werden. Aber bei mir ist es stärker, weil viele Menschen mein Leben nicht nachvollziehen können. Viele Menschen freunden sich an, weil sie sich jeden Tag sehen und sich aneinander gewöhnen. Das geht mit mir nicht. Echt eine seltsame Situation. Aber andererseits auch nichts Neues für mich.
WIE MEINST DU DAS?
Ich bin schon seit meiner Kindheit eher ein Einzelgänger, der in seiner eigenen kleinen Welt steckt. Als ich neun Jahre alt war, wurde ich aus meiner vertrauten Umgebung gerissen. Damals zog meine Familie von England, wo ich geboren wurde, nach Kanada, genauer gesagt nach Windsor, gegenüber von Detroit auf dem kanadischen Ufer des De- troit River. Davor, das weiß ich noch genau, war ich ein total aufgeschlossenes, kontaktfreudiges, extrovertiertes Kind. Ich hatte viele Freunde und habe mich ohne Probleme mit Fremden unter- halten. Und in dem Moment, als wir nach Kanada zogen: Rumms, ein Schnitt, ich wurde über Nacht zu einem introvertierten Menschen. In der Schule war ich auf einmal der Typ mit dem seltsamen Akzent, keiner kannte mich. Das alles brachte mich auf einen anderen Pfad. Und am Ende wohl dahin, wo ich jetzt bin.
ZU TECHNO UND TECHNOLOGIE?
Ich begann, Computer interessant zu finden. Mit denen konnte ich anstelle der Freunde interagieren, die ich vorher hatte. Ich weiß noch genau, als meine Eltern mir einen Commodore VC-20 geschenkt haben. Vor dem habe ich Stunde um Stunde verbracht. Vorher waren meine Augen perfekt. Aber im Laufe der dann folgenden vier, fünf Jahre verschlechterte sich mein Sehvermögen, weil ich ständig vor dem Bildschirm saß, spielte und Programme schrieb, die ich dann Menschen in einem Computerladen zeigte. Und, daran habe ich wirklich schon lange nicht mehr gedacht, ich habe auch lange ein Bulletin Board System (BBS) betrieben, also meinen Computer per Modem mit anderen verbunden. Das war lange vor dem Internet und vergleichbar mit der Elektronikmusik-Szene heute: Man hatte Kontakt zu anderen Menschen überall auf der Welt, man hatte ein cooles Pseudonym, man drückte sich aus und war zugleich anonym, sehr distanziert und einsam vor seinem Computer. Man kann schon sagen, dass das die Wurzeln von dem waren, was ich heute mache. All das endete in Computermusik, elektronischer Musik, Techno.
ZUMINDEST IN DER ANFANGSZEIT, ALS NOCH ALLES KLASSISCH FUTURISTISCH WAR, SCHIENEN SICH BEI TECHNO AUCH NUR DIE MASCHINEN ZU UNTERHALTEN.
Absolut. Als ich elektronische Musik für mich entdeckt habe, war das der Punkt, der mich am meisten fasziniert hat. Klar, diese Musik war schon damals auch warm und humanistisch. Aber ich fand am besten, dass sie Computermusik war. Sie erinnerte mich an meine Zeit vor dem Computer. Ich fand heraus, dass diese Musik von diesen seltsamen Maschinen stammte. Von diesen Typen, die nicht viel älter waren als ich und die praktisch die Geräusche aus meinen Computerspielen zu Musik machten. Und all das auch noch direkt vor meiner Haustür, in Detroit, auf der anderen Seite des Flusses, an dem Windsor liegt. Wow, davon wollte ich ein Teil sein.
HAST DU DANN DIE MENSCHEN, VON DENEN DIESE MUSIK STAMMTE, KENNEN GELERNT?
Nicht sofort. Ich traf erst mal auf andere Kids, die ebenso wie ich Außenseiter waren. Wir trugen Schwarz und Eyeliner und sahen ziemlich seltsam aus. Ein bisschen wie Gothics. Aber wir waren keine Gothics, wir waren Fans von elektronischer Musik. Wir gingen dann in diese Clubs in Detroit, wo wir Blake, Eddie, Kevin, Derrick (Baxter, »Flashin‘« Fowlkes, Saunderson, May, Anm. d. A.) und all diese Leute hörten. Das hat uns unglaublich inspiriert. Auch, ein Teil von etwas zu sein. Die Szene in Detroit war wirklich klein, das Music Institute (der erste wirkliche Techno-Club der Stadt, Anm. d. A.) fasste vielleicht 250, 300 Menschen. Das war der Kern von Detroit Techno zu dieser Zeit.
WAR ES EINFACH, IN DIESEN KERN VORZUDRINGEN?
Es war keine Familie, in die man sofort aufgenommen wurde. Es gab klare Grenzlinien innerhalb der Szene. Vor allem zwischen Schwarzen und Weißen, auch weil Detroit eine sehr gespaltene Stadt ist. Das habe ich zu der Zeit allerdings nicht so mitbekommen.
DU WARST DAS WEISSE KID AUS DER KANADISCHEN VORSTADT. DAS HAT ES WAHRSCHEINLICH DOPPELT SCHWER GEMACHT …
Das Erste, was John Aquaviva und ich jemals zusammen produziert haben, war ein Derrick-May-Transmat-Megamix. Das war unser Versuch, die Türen zu öffnen und Derrick zu zeigen, wie sehr wir ihn verehrten. Aber Derrick und die anderen waren so beschäftigt damit, ihren eigenen Kram zu machen, dass uns lange niemand beachtet hat. Und natürlich hatten sie noch vor Augen, was mit Rock‘n‘Roll und Elvis passiert ist.
EINE SCHWARZE MUSIK, DIE VON WEISSEN ÜBERNOMMEN WURDE.
Das wollten sie nicht schon wieder haben. Wir haben uns nie wirklich akzeptiert gefühlt, wir waren immer die Outsider. Plus 8 galt in der ganzen Welt als Detroit-Label, aber nicht für die Menschen dort. Meine Musik habe ich immer mit der Inspiration durch Detroit, aber auch mit der Distanz dazu aufgenommen. Ich bin abends immer zurück über den Fluss nach Windsor gegangen und habe die Grenze gespürt. Das gab mir immer eine andere Perspektive auf die Stadt.
WAR ES DAS, WAS DEINE MUSIK KÄLTER MACHTE ALS DIE DER KLASSISCHEN DETROIT-PRODUZENTEN?
Derrick und Juan und Kevin haben sich immer eine bessere Zukunft vorgestellt, einen besseren Ort außerhalb Detroits. Sie wollten weg von dort, ihrer Zukunft entkommen, die darin bestand, in einer der Autofabriken am Band zu arbeiten oder sogar arbeitslos zu sein. Meine Musik war dagegen immer der Blick von außen nach innen, von diesem weißen Kid in Windsor, das sich sein Detroit vorgestellt hat. Das hat natürlich eine andere Musik hervorgebracht.
TROTZ DEINER EHER DYSTOPISCHEN MUSIK HAT DICH VERMUTLICH EBENFALLS VOR ALLEM DAS UTOPISCHE DES FRÜHEN TECHNO ANGESPROCHEN.
Ja, das war enorm uplifting. Ich weiß noch, als wir zum ersten Mal ins Music Institute gegangen sind. Da waren 95 Prozent Schwarze, und alle haben meinen Bruder und mich angestarrt. Aber das war uns egal. Wir waren genauso inspiriert und angeregt von dem, was dort passierte, wie alle anderen Anwesenden. Von diesem Crossover zwischen Musik und Technologie, von diesem Eskapismus und Utopismus.
ESKAPISMUS, BEI DEM MAN SICH EINFACH WEGSCHIESST UND DIE VERHÄLTNISSE INTAKT LÄSST, UND DAS KONKRETE VERFOLGEN EINER UTOPIE SIND EIGENTLICH GEGENSÄTZE. MANCHMAL KÖNNTE MAN DENKEN, DASS BEI TECHNO VOR ALLEM DER ESKAPISMUS ÜBRIG GEBLIEBEN IST.
Der Eskapismus funktioniert eben sehr gut. Weil Techno instrumental ist, weil Techno-Ereignisse so lang sind, weil sich die Musik über Stunden entwickeln kann. Es ist nicht preachy, es ist einfach da und saugt die Menschen ein. Die Nachrichten sind eingebettet. Man kann sich gehen lassen und sich frei fühlen.
UND DIE UTOPIE? IN DEUTSCHLAND HIESS DAS JA MAL RAVING SOCIETY – EINE TANZENDE GESELLSCHAFT, IN DER ALLE SEXUELLEN, SOZIALEN UND BIOLOGISCHEN UNTERSCHIEDE EGAL SEIN SOLLTEN. HAT DAS JEMALS FUNKTIONIERT?
Ich weiß nicht. Vielleicht für einen kurzen Moment zu einem sehr frühen Zeitpunkt der Entwicklung, als sich die Leute durch diese Musik von vielen Konventionen befreit fühlten. Aber es ist doch die Natur einer Utopie, dass sie vielleicht gar nicht existiert und dass die Menschen trotzdem nach ihr streben. Teile dieser Utopie sehe ich heute noch an jedem Wochenende verwirklicht. Was gibt es Besseres, als mit 10.000 Leuten zusammen auf einem Dancefloor zu sein? Du stehst in Kontakt mit allen, und du tust es zugleich nicht. Man kann auch die Augen zumachen und für acht Stunden alleine tanzen. Diese Musik gibt den Menschen also die Möglichkeit, ganz alleine oder ganz gesellig zu sein. Einsam oder eingebunden, je nach Gefühlslage. Und das ist doch was.
Richie Hawtin tauchte in SPEX u.a. in den Ausgaben 12/94 (Seite 63), 06/98 (Seiten 24-27) und 10/2001 (Seiten 74-76) auf. Sein aktuelles Album »DE9: Transitions« ist bereits via Novamute/EMI erschienen.