Es wäre untertrieben zu sagen, dass man Ordo Sakhna vorher nicht so recht auf dem Schirm hatte. Die Infospuren waren dünn, ein paar Namen und CD-Cover, Hinweise auf die fast vergessenen Tänze Bakshy–Biy und Shyrdak–Biy, dazu ein Foto von acht Männern und Frauen in folkloristischen Kostümen auf grüner Wiese vor Bergkulisse. Zwar ist die 1999 gegründete Folk-Musik-Theatergruppe aus Bischkek, der Hauptstadt von Kirgistan, schon vereinzelt international aufgetreten, auch in Deutschland. Aber nur wenige pop-kulturell Interessierte dürften davon etwas mitbekommen haben. Die Auftritte fanden in „Weltmusik“-Kontexten statt, waren also sicher abgegrenzt und klar markiert als etwas von der westlichen Pop-Kultur Unterschiedenes. Alles in allem war Kirgistan, in Zentralasien eingekeilt zwischen Tadschikistan, Kasachstan, Usbekistan und China, im Westen pop-musikalisch eher nicht in Erscheinung getreten.
Etwas mehr in den Fokus gerieten Ordo Sakhna, und mit ihnen kirgisische Musik, dann aber 2017, als die Gruppe zusammen mit dem Produzenten Moritz von Oswald eine Doppel-Ten-Inch auf dem britischen Label Honest Jon’s veröffentlichte. Dafür bearbeitete von Oswald die von Ordo Sakhna gespielten neotraditionellen Stücke überwiegend nur sachte, dubbte mal hier eine Kante weg, ließ dort mal eine Steve-Reich-Asynchronität auseinanderlaufen. Für die meisten Hörer im Westen dürfte das Projekt, das auf einer Initiative des polnischen Unsound-Festivals basierte, der erste Kontakt mit kirgisischer Musik überhaupt gewesen sein. Und doch wurde diese Musik vollkommen selbstverständlich präsentiert, von einem krediblen Label, ohne große Worte, ohne lange Liner Notes, ohne exotistische Fotos. Als etwas, das für sich stehen darf.
Wer offene Ohren hat, findet heute leicht weitere solcher Beispiele. Zwar nicht für jeden Winkel der Welt, aber doch für ziemlich viele. Denn in der vergangenen Dekade ist die Musik fast der gesamten Welt endgültig in der Pop-Musik des Globalen Nordens angekommen. Die mitgebrachten kulturellen Marker und lokalen Elemente werden dabei von Musiker_innen, Produzent_innen und DJs mal mehr, mal weniger respektvoll behandelt – was beides auf seine Art funktionieren kann. Auf jeden Fall geht es hier nicht um Schätze für digger und Reissues, wo ja mit Samthandschuhen vornehmlich Platten rund um den Black Atlantic ausgegraben und herumgereicht werden, und auch nicht um wohlwollende ethnografische Feldaufnahmen vermeintlich unberührter Traditionen. Diese beiden Ansätze liefern höchstens mal Inspiration oder dienen als Klangquellen. Sondern um Neuproduktionen von aktueller Pop-Musik, meist elektronischer Pop-Musik, manchmal von Menschen, die eine Migrationsgeschichte mit den behandelten Musikgenres verbindet, manchmal aber auch nicht. In jedem Fall trifft jetzt eine umfangreiche Neugier auf eine umfangreiche Verfügbarkeit.
Das meint, es kommen Entwicklungen von zwei Seiten zusammen: Auf der einen Seite, im Globalen Norden, sitzen latent gelangweilte Auskenner, die an westlicher Pop-Musik mit ihren Genres, Unterkategorien und Subszenen schon alles erlebt zu haben glauben. Spätestens seit der großflächigen Einführung digitaler Produktionsmittel ist heute jeder Sound mindestens einmal atomisiert und wieder zurück fusioniert worden, jedes Tempo gespielt, jede mögliche Kreuzverbindung erkundet – so fühlt es sich zumindest an. Naheliegend also, mal über das Internet zu horchen, was es abseits des westlichen Konsens da draußen noch so gibt. Dass der Südkoreaner Psy mit „Gangnam Style“, einem Spott-Rap über das sehr lokale Phänomen des Schickimicki-Lifestyles im Seouler Stadtzentrum, unbeabsichtigt einen globalen Megahit landete, wurde durch diese im Wortsinn: Neugier mit ausgelöst.
Der theoretisch mögliche Zugriff auf kulturelle Produkte der ganzen Welt ist uns selbstverständlich geworden, jeder kann jederzeit auf Youtube oder Soundcloud in einem Strudel verschwinden. Warum? Weil auf der anderen Seite Menschen rund um die Welt ja nicht nur westliche Pop-Kultur empfangen, sondern auch ihre eigene aussenden. Und nicht nur südkoreanische Rapper. Hochzeitskapellen aus Uganda, sibirische Noise-Combos, mexikanischer Tribal? Alles da, man muss nur hinhören. Dazu kommen noch migrantische Musiker_innen, die zur Selbstverortung mitgebrachte kulturelle Marker in den globalen Norden einschleusen, siehe etwa Afro-Trap.
Wenn Pop-Musik fade wird
Die gelangweilte westliche Auskenner_in blickt also über den Tellerrand. So ganz neu ist das nicht, wenn auch früher der Transfer Kulturgüter nur in eine Richtung extrahierte: In den Fünfzigerjahren bediente man sich in Südamerika und der Südsee, in den Sechzigern in Indien und in den Siebzigern auf Jamaika und in Afrika. Der Spiegel fasste es 1983 so zusammen: „Fast immer, wenn die Pop-Musik der Weißen modisch fade wird, klammern sich die Fans an die Große Schwarze Hoffnung, denn die hat selten getrogen.“ Schließlich finde sich, schwärmte der Text ganz im Duktus der kolonialen Ressourcenausbeutung, vor allem in Afrika ein „unerschöpfliches Musikreservoir“. Im Jahr 1987 setzten sich dann ein paar mittelalte weiße Männer in einem Londoner Pub zusammen und zimmerten dort die Schublade „Weltmusik“, in die sie sämtliche indigene nichteuropäische Musiken von kolumbianischer Cumbia über thailändischen Luk Thung bis zu australischer Aborigine-Folklore werfen konnten, um daraus ein Geschäft zu machen.
In den Nullerjahren besserte sich die Lage etwas, denn auf der Basis von Clubkultur und elektronischer Musik konnten Musiker_innen aus verschiedenen Kontexten erstmals auf Augenhöhe miteinander arbeiten. Möglicherweise erleichtern bei Clubmusik sowohl die vorwiegend digitale Produktionsweise als auch das gemeinsame ästhetisch-funktionale Anliegen, nämlich Menschen zum Tanzen zu bringen, den Austausch. Schon vor exakt zehn Jahren schrieb der Autor dieses Textes bei Groove über eine „Brücke zwischen den Clubkulturen“, an der Beatproduzent_innen im Globalen Norden und im Globalen Süden gleichermaßen bauten.
Damals hatte gerade M.I.A. mit ästhetischen Links zum Bürgerkrieg in Sri Lanka für Aufsehen gesorgt, und der Deutsche Daniel Haaksman den brasilianischen Baile Funk für europäische Publika aufgeschlossen. Vor allem aber ging es um Afrika, das als Wiege der Pop-Musik nicht nur geografisch vergleichsweise nahe lag. Buraka Som Sistema, DJ Mujava und Afrikan Boy liefen auf Dancefloors, Radioclit kollaborierten von London aus mit dem malawischen Sänger Esau Mwamwaya, die US-Band Vampire Weekend entdeckte die eleganten Gitarren des westafrikanischen Highlife für sich. Damals war in Groove vom Autoren dieses Textes zu lesen: „Natürlich ist die Zahl von afrikanischen Musikern, deren Tracks in hiesigen Clubs auftauchen, letztlich immer noch lächerlich, bedenkt man die Größe Afrikas und den herausragenden Stellenwert, den Musik dort hat.“ Aber das alles war ein Anfang, immerhin.
Ein paar Level unter der Chefetage
Seither hat sich einiges getan. Klar, Afrika ist präsenter denn je – von Drakes Kollaborationen mit dem Nigerianer Wizkid bis zum südafrikanischen Gqom-King DJ Lag, der es auf Beyoncés Soundtrack Der König der Löwen geschafft hat. Sogar der sehr weiße Ed Sheeran machte sich (bei „Shape Of You“) mit „Tropical Beats“ locker.
Aber inzwischen hinterlassen eben auch andere Weltregionen Spuren in der Pop-Musik des Globalen Nordens, wenn auch meist ein paar Subkultur-Level unter der Chefetage der Sheerans, Drakes und Beyoncés. So finden sich etwa in der „Outernational“-Sektion des Berliner Plattenladens Hard Wax ganz selbstverständlich zeitgenössische Aufnahmen aus Laos oder die aktuelle Platte des syrischen Keyboard-Maniacs Rizan Said, dazu natürlich auch in Afrika Verwurzeltes, etwa psychedelischer Tuareg-Rock, Singeli-Breakbeats aus Tansania oder die Arbeiten von Mark Ernestus mit der Ndagga Rhythm Force im Senegal. Bernd Friedmann erkundet mit dem iranischen Perkussionisten Mohammad Reza Mortazavi aus westlicher Sicht „ungerade“ Beats wie etwa Elf-Achtel-Takte.
Auch der Techno-Produzent Stefan Goldmann lässt auf seinem aktuellen Album Veiki asymmetrische Metren mit sieben, neun oder elf Schlägen anstelle der im Techno handelsüblichen vier rollen. Er verortet deren Quelle im östlichen Mittelmeer oder in Bulgarien, wo er aufgewachsen ist. Und in Düsseldorf verschlingen Leute wie Harmonious Thelonious, Don’t DJ oder Wolf Müller Rhythmusmuster und Harmonien von überall auf der Welt und erstellen daraus eine zeitgenössische und respektvolle Form von Exotica. Und im Berliner Berghain kann man heute ohne jeden Exotismus erleben, wie etwa die Inuit-Kanadierin Tanya Tagaq mit Charakteristika von Inuit-Kehlkopfgesang arbeitet.
Kulturproduktionen dieser Art gab es an diesem Ort vor zehn Jahren noch eher selten. Die Erkenntnisse des Blicks über den Tellerrand erscheinen auf Labels wie Akuphone, Discrepant oder Nyege Nyege Tapes. Ein gutes Beispiel ist die Plattform Morphine Records des gebürtigen Libanesen Rabih Beaini: Er hat 2005 mit Offsider-House und -Techno begonnen, veröffentlicht aber seit Mitte dieses Jahrzehnts unter anderem den Noise des indonesischen Duos Senyawa samt Nebenprojekten: „Ich bemerke, dass sich in der Welt und in mir selber etwas verändert“, sagte Beaini 2017 dem britischen Magazin The Quietus. „Ich bin gerade nicht mehr wirklich an europäischer oder amerikanischer elektronischer Musik interessiert. Meine Aufmerksamkeit ist jetzt mehr nach Außen gerichtet, und es sind gute Zeiten dafür.“
Als besonders ergiebig erweist sich in jüngster Vergangenheit zudem der gesamte arabische Kulturraum. Kein Wunder, schließlich steht er seit fast 20 Jahren im medialen Fokus, wenn auch meist kritisch bis ablehnend beäugt. Zudem sind von dort viele Migrant_innen in den Globalen Norden gelangt. Schon seit Anfang der Achtziger hat der heute quasi-religiös verehrte Brite Muslimgauze der westlichen Welt arabische Fragmente auf den Teller geschmettert. Heute kann man etwa bei Ammar 808 oder Deena Abdelwahed nachhören, wie sich Araber_innen in elektronischer Musik äußern. Zunehmend begegnen sich auch beide Welten, etwa in James Holdens Kooperation mit marokkanischen Gnawa-Musiker_innen oder in den abgründigen Tracks des deutschen Trios Carl Gari mit dem ägyptischen Sänger Abdullah Miniawy, die bei Whities und Trilogy Tapes erscheinen.
Was ist überhaupt „fremd“?
Doch bei aller Euphorie sollte man nicht vergessen: Es gibt nach wie vor Hierarchien, Machtgefälle, Ausbeutung und „kulturelle Appropriation“. Aber wo genau solche Appropriation beginnt, und bis zu welchem Punkt es noch das unsentimentale Nehmen und auch Geben ist, von dem Pop seit 100 Jahren lebt, das ist mitunter schwer zu trennen. Überhaupt verschwimmt zunehmend die Grenze zwischen dem, was „eigen“ ist und was „fremd“. Wer etwa wollte Fatima Al Qadiri, in Senegal geborene und in den USA aufgewachsene Tochter von Kuwaitern, verbieten, auf Asiatisch, ihrem Debüt auf Hyperdub von 2014, mit überdeutlich „asiatisch“ markierten Klängen zu hantieren – gerade um die Konstruiertheit von „Orient“ und „Okzident“ bloßzustellen? Leuten wie Al Qadiri geht es nicht um Exotismen, sondern um Entgegnungen auf unsere hybride und zugleich komplexere wie zunehmend durch Vorurteile entzweite Welt.
Nun wird bestimmt irgendjemand argumentieren, dass man aber doch die „authentischen“ Musiken vor Ort bewahren müsse, die „Traditionen“. Aber „Authentizität“ kann man vergessen, konnte man ja genau genommen schon immer. Unbefleckt war im Pop noch nie jemand, inzwischen halt noch weniger als je zuvor. Das relevante Buch dazu hat Jace Clayton alias DJ/Rupture 2016 veröffentlicht: Uproot: Travels In 21st-Century Music And Digital Culture, einem der schlausten Musikbücher der Dekade. Wenn jedenfalls Spuren, Protagonist_innen oder ganze Genres von überall auf der Welt heute ganz selbstverständlich bei uns auftauchen, wird dann nicht dieser obszöne Begriff „Weltmusik“, der die ganze Welt außer der kleinen Ausnahme des Globalen Nordens zu einem großen Ghetto erklärte, obsolet? Nur wie dieser globale kulturelle Austausch jetzt unter den Bedingungen von Klimawandel und Flugscham weitergehen wird, das wird man sehen. Pop-Musik findet sicher eine Lösung.