Die einsamsten Orte der Welt

Dummy Magazin

Arbre du Ténéré: Keine Fata Morgana!

Die Taghlamt, die Salzkarawanen durch die Wüste des westafrikanischen Niger, sind eine Qual für Mensch und Tier. Zwei Mal im Jahr brechen sie von der uralten Stadt Agadez auf zu den Salzpfannen im Kaouar-Tal, drei Wochen hin, drei Wochen zurück. Wie in Zeitlupe stapfen die schwerbeladenen Kamele mit Touareg-Reitern durch die Ténéré-Wüste, einen der trockensten Teile der Sahara. Die erstreckt sich ringsum auf neun Millionen Quadratkilometern, 26 Mal die Fläche von Deutschland. Die Ténéré gilt als ihr heißes Herz. Und mittendrin in diesem sonnenflirrenden Nichts erschien er den Karawanen früher irgendwann am Horizont: der Arbre de Ténéré. Eine drei Meter hohe Akazie – in einer der extremsten Regionen der Erde, hyper-arides Klima, manchmal jahrelang kein Regen, Temperaturen bis 50 Grad Celsius. Ringsum kein anderer Baum. Sogar überhaupt keine anderen Pflanzen. Das Bäumchen im Meer aus Sand tauchte sogar als Wegmarke auf Landkarten auf.

Die Touareg, die traditionell an dieser Stelle rasteten, gingen davon aus, dass der Baum einst auf dem Grab eines Marabout gepflanzt worden ist, eines islamischen Heiligen. Weshalb jeder des Todes sei, der den Baum verletzt oder schändet. Des Nachts höre man unter seinen Zweigen Jammern, Heulen und Wehklagen, der Stamm glühe dann rot, raunten sie. „Man muss den Baum gesehen haben, um seine Existenz zu glauben“, staunte auch der im damaligen Französisch-Westafrika stationierte Kommandant Michel Lesourd 1939 in seinem Tagebuch. Aber ein Maraboutgrab, wirklich? Lesourd und seine Leute wollten es genauer wissen – und gruben. Sie folgten den Wurzeln des Baums und trafen nach Monaten schließlich auf Grundwasser, in 35 Meter Tiefe, mehr als zehn Mal so tief, wie die kleine Akazie über der Erde hoch war. Der Baum war vermutlich der letzte Überrest einer Oase, die schon längst vom Sand verschluckt worden war. Sicher 300 Jahre alt.

Ein paar Jährchen wären wohl noch dazugekommen. Wenn nicht 1973 ein Lastwagenfahrer aus Libyen mit seinem Truck die alte Karawanenroute entlang gebrettert wäre, mutmaßlich betrunken. Und den Arbre de Ténéré, der in der gleißenden Einöde kilometerweit zu sehen gewesen sein muss, in einem Frontalcrash kurzerhand umlegte. So erzählen es zumindest die Touareg heute. Vielleicht war es aber auch einfach der Wüstenwind Harmattan, der für das Ende der mutmaßlich einzigen Pflanze im Umkreis von einigen Hundert Kilometern gesorgt hat. Die nigrische Regierung ließ Jungbäume pflanzen und zu ihrem Schutz eine Lehmmauer errichten. Sogar ein Gärtner wurde angestellt. Ohne Erfolg, alle Bäume starben.

Heute sind die Überreste des ursprünglichen Arbre de Ténéré im nigrischen Nationalmuseum in der Hauptstadt Niamey zu sehen. Und mitten in der Sahara steht zum Ersatz als Orientierungsmarke für Karawanen nun eine bemerkenswert hässliche Metallskulptur. Mit blinkenden Radkappen, damit Reisende sie schon von weitem sehen. Durch das Stahlgestell heult der Harmattan. Und das klingt dann wohl tatsächlich wie Jammern und Wehklagen.

Tristan da Cunha: Splendid isolation

Als sich der Seemann Jonathan Lambert aus Salem/Massachusetts am 27. Dezember 1810 zusammen mit zwei Kumpanen von einem Walfangboot auf einer abgelegenen Inselgruppe im Südatlantik aussetzen ließ, hatte er Großes im Sinn: Er nahm die Vulkaninseln in Besitz, taufte sie „Islands of Refreshment“ und rief sich zum Alleinherrscher aus. Nur knapp anderthalb Jahre später ertranken die drei Glücksritter beim Fischen in den rauen Gewässern rings um ihr Reich – und der kleine Archipel bekam seinen alten Namen zurück: Tristan da Cunha, benannt nach dem portugiesischen Admiral, der ihn rund dreihundert Jahre zuvor entdeckt, aber nicht betreten hatte. Als erster Mensch setzt dann 1643 Kapitän Claes Gerritsz Bierenbroodspot von der Dutch East India Company seinen Fuß auf den Boden der Hauptinsel, die so heißt, wie die gesamte Inselgruppe.

Heute wohnen immerhin 244 Menschen auf der Hauptinsel mit ihrer Siedlung Edinburgh of the Seven Seas. Fast alle Einwohner gehören zu einer von acht ortsansässigen Familien, es sind Nachfahren von Seeleuten, Soldaten, Schiffbrüchigen oder Walfängern. Tristan da Cunha ist damit die abgelegenste bewohnte Insel der Welt. Sie liegt ziemlich genau mittig zwischen Afrika und Südamerika, zu deren Küsten es jeweils rund 3000 Kilometer sind. Zum Archipel gehören außerdem noch die Naturschutzgebiete Gough Island und Inaccessible Island sowie die winzigen Nachtigalleninseln.

Die gesamte Inselgruppe wurde im frühen 19. Jahrhundert von den Briten annektiert. Sie richteten hier eine Garnison ein, um zu verhindern, dass die Franzosen den verbannten Napoleon Bonaparte von der Insel St. Helena befreien. Bis dahin sind es immerhin auch 2400 Kilometer. Später siedelten sich einige Walfänger und Lebensmittel-Händler für durchreisende Segelschiffe an. Doch als mit der Eröffnung des Suez-Kanals eine kürzere Schiffsroute nach Asien zur Verfügung stand, kam fast niemand mehr auf Tristan da Cunha vorbei.

Heute leben die Tristanianer, wie sie sich nennen, meist vom Hummerfang und vom Verkauf der seltenen lokalen Briefmarken, die bei Philatelisten heiß begehrt sind. Außerdem ist jeder Einwohner Landwirt, sämtliches Farmland gehört der Gemeinschaft und wird gemeinsam bewirtschaftet. Etwas Geld in die Kassen bringen auch zivilisationsmüde Touristen, vor allem aus Europa. Die Anreise ist allerdings recht beschwerlich: Weil Tristan da Cunha bis heute keinen Flughafen hat, müssen Besucher fünf bis sechs Tage mit Schiffen von Südafrika übersetzen. Und auch die fahren nur unregelmäßig. Die lokalen „Tristan da Cunha News“ vermelden denn auch freudig jede Schiffsankunft, ob Privatyacht, Forschungsschiff oder Linienverkehr. Dass die Insel derart abgekapselt ist vom Rest der Welt, sieht James Glass, als „Chief Islander“ eine Art Bürgermeister, aber nicht nur als Nachteil – sondern auch als eine Form der britischen „splendid isolation“: „Wir schulden niemandem etwas“, schwelgt er in seinem Weihnachtsgruß angesichts des Corona-Jahrs 2020. „Wir klagen manchmal darüber, dass wir etwas nicht bekommen oder unternehmen können. Aber die Vorteile, auf Tristan zu leben, überwiegen bei weitem die Nachteile – ganz besonders in diesen Zeiten.“

Point Nemo: Wo das Tentakelmonster schläft

Ab und zu stürzt vielleicht mal ein Raumschiff vom Himmel. Ein glühender Feuerball, eine Welle, die Trümmer versinken schnell im eiskalten Wasser. Danach herrscht wieder Ruhe an Point Nemo, dem „ozeanischen Pol der Unzugänglichkeit“. So heißt jene Stelle auf der Erdoberfläche, die weiter als irgendeine andere von festem Boden und damit von menschlichem Leben entfernt ist. Point Nemo liegt mitten im Wasser des südlichen Pazifiks, im Nirgendwo zwischen Chile und Neuseeland. Jeweils rund 2700 Kilometer sind es von hier bis nach Ducie Island, das zu den ihrerseits schon ziemlich abgelegenen Pitcairn-Inseln gehört, zu Motu Nui, das den Osterinseln vorgelagert ist, und zum antarktischen Maher Island. Die Anreise per Schiff dauert mindestens zwei Wochen. Und zwei Wochen wieder zurück. Erst 1992 hat der kroatisch-kanadische Vermessungstechniker Hrvoje Lukatela diesen Nicht-Ort mit Hilfe eines selbstgeschriebenen Computerprogramms berechnet – und dann mit dem lateinischen Wort für „Niemand“ getauft.

Schon länger nutzen europäische, russische und japanische Raumfahrtbehörden die Gegend um Point Nemo als Raumschiff-Friedhof. Sie sei „so ziemlich der von menschlicher Zivilisation am weitesten entfernte Ort, den man finden kann“, sagt die NASA dazu. Die Ecke im pazifischen Nichts liegt abseits aller üblichen Schifffahrtsrouten, es kommt höchstens mal ein einsamer Weltumsegler vorbei, darum ist es sehr unwahrscheinlich, dass herabfallende Trümmerteile Menschen verletzen. So wurden hier schon die sowjetischen Raumstationen Saljut 1 bis 6 und Mir, ausgeglühte Reste großer Raketenstufen, mehrere Satelliten sowie einige unbemannte Kapseln nach ihrer Rückkehr von der International Space Station (ISS) per kontrolliertem Absturz im Meer versenkt. Insgesamt mehr als 260 Weltraumfahrzeuge.

Passenderweise sind für potenzielle Besucher von Point Nemo jene Astronauten, die alle 90 Minuten in 400 Kilometern Höhe mit der ISS vorbeischweben, die nächsten Mitmenschen. Oder sogar überhaupt die nächste größere Lebensform. Der US-Meeresforscher Steven D’Hondt nennt die Gegend den „biologisch inaktivsten Ort der gesamten Ozeane“. Hier gedeiht fast nichts, weil der gigantische Meeresstrudel South Pacific Gyre nährstoffreiches Wasser abhält. Nicht mal der Wind kann über derart weite Strecken Nährstoffe vom Land herantragen. Immerhin leuchtet das Wasser ohne solche Einträge in absolut klarem Kornblumenblau.

Unter der Oberfläche dieses Blaus ist übrigens ein lautes, ultratiefes Grollen zu vernehmen, Fachleuten als der „Bloop“ bekannt. Ist es die tentakelgesichtige Riesenkreatur Cthulhu aus der versunkenen Stadt R’lyeh, die der Horrorautor H.P. Lovecraft schon im frühen 20. Jahrhundert genau in hier ansiedelte? Zumindest spekulierten Wissenschaftler lange, das Dröhnen müsse von einem gigantischen Lebewesen stammen, größer als alle bekannten Wale und Kalmare. Allerdings kennt niemand einen Organismus, der ein derart lautes und reichweitenstarkes Geräusch abgeben könnte. Heute geht man davon aus, dass es vom Brechen und Bersten der Eisberge in der Antarktis stammt. An windstillen Tagen dürfte es das einzige Geräusch an Point Nemo sein.