Reportage: Ein weites Feld

fluter

Dieses Feld ist ein Superlativ: Als der Tempelhofer Flughafen vor 15 Jahren geschlossen wurde, hatte Berlin bald darauf plötzlich eine der größten innerstädtischen Freiflächen der Welt – und der angrenzende Schillerkiez in Neukölln wandelte sich vom Problemviertel zur gefragten Wohngegend.

Am späten Donnerstagabend kam noch mal eins. Um kurz nach 22 Uhr dröhnte die Turboprop-Maschine am 30. Oktober 2008 über die Hausdächer, ein Ambulanzflugzeug mit einem Kranken an Bord. Es landete sicher, tankte kurz auf und startete wieder, der Lärm war in der Ferne noch zu hören. Dann herrschte Ruhe im Viertel. Endlich. Mehr als 80 Jahre lang donnerten bei Westwind sämtliche Flugzeuge, die auf dem Flughafen Tempelhof mitten in Berlin landen wollten, über die Dächer des Schillerkiezes im Nordwesten Neuköllns. Und in Berlin herrscht meist Westwind. Marina Kremlevskaja weiß noch, wie es war. Die 52-Jährige betreibt seit 2005 in dem Viertel die Eckkneipe „Bechereck“. Damals war der Schillerkiez, benannt nach der zentralen Straße Schillerpromenade, eine der ärmsten Ecken der Stadt. Sperrmüll vor den Häusern, verwahrloste Wohnungen, harte Trinkerszene, Familiengewalt. „Ganz ehrlich, hier waren nur Assis“, sagt die zierliche Kneipenwirtin Kremlevskaja, die aus Russland stammt und ungern ein Blatt vor den Mund nimmt.

Doch 2008 wurde der Airport Tempelhof dicht gemacht, Flugverkehr mitten in einer Großstadt war nicht mehr zeitgemäß. Und als zwei Jahre später das ehemalige Flugfeld seine Tore für jede und jeden öffnete, wurde aus einem Problemviertel am Rande eines Flughafens über Nacht ein Altbau-Quartier, an das ein riesiger Park grenzt: das Tempelhofer Feld, viel Platz, viel Grün, viel Himmel. Marina Kremlevskaja hatte zu dem Zeitpunkt schon fast aufgegeben und wollte ihr „Bechereck“ dichtmachen. „Aber seitdem geht es bergauf!“, ruft sie heute in ihrer Kneipe. Klar, die Mieten im Kiez steigen, leider. Aber sie freut sich, dass jetzt mehr Studierende zu ihr kommen, mehr internationale Gäste, die sie als besonders höflich wahrnimmt, „normales Publikum, gute Leute“, wie sie sagt.

Die Öffnung des Feldes hat vieles verändert. Seitdem ringen neu Hinzugezogene mit alteingesessenen Anwohner:innen, Bürgerinitiativen mit Investor:innen um die Zukunft der Freifläche, um die des Schillerkiezes an deren einem Ende und um die des gigantischen Flughafengebäudes am anderen. So viel Fläche, so viele Möglichkeiten, und das mitten in einer europäischen Metropole – wo sonst gibt es so etwas noch? Kein Wunder, dass sich hier viele Debatten der Stadtentwicklung wie unter einem Brennglas beobachten lassen, von der Gentrifizierung bis zu der Frage, wie viel öffentlichen Raum eine moderne urbane Gesellschaft braucht.

Der Kiez

Der Schillerkiez ist ein Dorf, ein rechteckiges Dorf mit Kopfsteinpflaster, begrenzt von zwei großen Straßen und zwei Parks. In diesem Rechteck leben rund 23.000 Menschen, die meisten in Altbauten, von denen jetzt immer mehr hübschgemacht werden, während andere weiter eher runtergerockt in den Straßen stehen. Ebenso gegensätzlich wie die Hausfassaden ist das ganze Quartier: hier noch ein rumpeliger Blumenladen oder ein alter Späti mit Trinker-Stammkundschaft auf Bierbänken davor, dort schon ein neues Restaurant mit mexikanischem Fusion-Essen oder ein genderneutraler Friseursalon, aus dem Techno auf den Fußweg pumpt. Immer mehr Menschen hier können sich jetzt so etwas leisten. Früher lebten im Viertel 40 Prozent von staatlicher Hilfe. Jetzt ist es nur noch jede:r Dritte.

Wenn der Schillerkiez ein Dorf ist, dann ist das Dorfzentrum der kreisrunde Herrfurthplatz, auf dem seit mehr als 100 Jahren die evangelische Genezareth-Kirche steht. Über den dortigen Wochenmarkt schlendern samstags immer mehr Eltern mit Nachwuchs in sehr teuren Kinderwagen. „Vor unserer Tür prallen wirklich Welten aufeinander“, sagt Pfarrerin Susann Kachel, 45, die im Anbau neben der Kirche am Laptop sitzt. Sie arbeitet mit am Pilotprojekt „Start.Bahn“, mit dem der Kirchenkreis Neukölln im Schillerkiez die Kirche der Zukunft ausprobiert. Das bedeutet, dass sich die Genezareth-Kirche als „Raum für Begegnungen und Vernetzungen“ positioniert – etwa mit einem Pop-up-Hochzeitsfestival für Kurzentschlossene oder mit dem Auftritt eines queeren Chors auf dem Gebäudevordach. Wobei Kachel einlenkt, dass solche Projekte natürlich vor allem die Neuzugänge im Viertel ansprechen. Die bilden eine wichtige, weil wachsende Zielgruppe: Rund 40 Prozent der Kiezbewohner:innen sind heute zwischen 18 und 35 Jahre jung – und nur noch 7,7 Prozent über 65 Jahre alt.

Einige der Jüngeren aus dem Viertel, zumindest die weiblichen unter ihnen, trifft man regelmäßig eine Ecke weiter. Seit 20 Jahren bietet hier der Mädchentreff Schilleria für alle weiblichen, inter, nicht-binären, trans* und agender Personen „Empowerment- und Freizeiträume“. Das bedeutet: gemütliche Sofas, Tanzworkshops, politische Bildung, Gelegenheit zum Chillen. Der geräumige Eckladen mit Graffiti an der Fassade in der beliebten Herrfurthstraße ist eine Premium-Immobilie. Die Miete wurde denn auch vor ein paar Jahren erst verdreifacht, sie frisst jetzt einen Großteil des Etats, sodass manchmal nicht mehr genug für Programm und Projekte übrig bleibt. „Und unsere Mädchen erzählen uns, dass sie sich im Kiez nicht mal mehr die Pommes nach der Schule leisten können, bevor sie zu uns kommen“, sagt Sevim Uzun, die im Schillerkiez aufgewachsen ist und jetzt als Sozialarbeiterin für die Schilleria wieder in ihrem alten Viertel arbeitet.

Mit solchen Beobachtungen ist Uzun nicht allein: In der Änderungsschneiderei mit dem ausgeblichenen blauen Schild am Herrfurthplatz muss die Betreiberin nach eigener Aussage mittlerweile quasi nonstop arbeiten, um ihre steigende Miete zahlen zu können. Und im alteingesessenen Frisiersalon Daniela ein Stück die Straße runter schießen der Inhaberin Tränen in die Augen, weil ihr gerade der Laden gekündigt wurde. Sie hat jetzt keine Lust zu reden.

Das Feld

Schaut man vor dem Salon Daniela die Straße runter, scheint man direkt in den Himmel zu blicken. Dort weitet sich das Tempelhofer Feld, der Auslöser für all die Umwälzungen im Kiez. Dort kann man fast bis zum Horizont gucken – wie am Meer, nur ohne Wasser, dafür mit wogenden Wiesen. Hier joggen Menschen, bauen in Gartenprojekten Gemüse an oder grillen einfach nur ihre Bratwürst.chen Das Wiesenmeer ist die weltweit größte innerstädtische Freizeitfläche, rund 420 Fußballfelder groß. So groß, dass man einfach ein paar hundert Meter weitergehen kann, wenn einen jemand nervt. Die Weite entspannt.

Das Areal ist tief in der Psyche Berlins verankert. Als die Sowjetunion 1948 den Westteil der Stadt blockierte, wurden die Einwohner:innen über den Flughafen Tempelhof versorgt. Später war er Berlins mondänes Tor zur Welt. Nachdem er 2008 geschlossen worden war, wurden angesichts der Wohnungsnot schon bald Forderungen laut, doch bitte auf der riesigen Fläche Wohnungen zu errichten. Doch 2014 stimmten in einem Volksentscheid fast zwei Drittel der teilnehmenden Berlinerinnen und Berliner dagegen. Eine klare Entscheidung. Neun Jahre später denkt ein neu gewählter Senat darüber nach, es doch einfach noch mal zu probieren: Laut Koalitionsvertrag von CDU und SPD soll es einen städtebaulichen Wettbewerb zumindest über eine Randbebauung geben.

„Das hier ist ein Seelenort für sehr, sehr viele Menschen aus den umliegenden Kiezen“, sagt Peter Broytman, 41. Er wohnt im Schillerkiez, geht gern mit seinem schwarzen Hund auf dem Feld spazieren – und ist einer von sieben gewählten Feldkoordinatoren, die im Auftrag der Berlinerinnen und Berliner über die transparente und gerechte Nutzung des Areals wachen. Hauptberuflich ist Broytman Spezialist für die Digitalisierung von Verwaltungen und kann darum mühelos deren Jargon anstimmen: „Wir haben den Entschluss gefasst, dass wir uns auf allen Ebenen dafür einsetzen, dass das Tempelhofer-Feld-Gesetz in der jetzigen Form weiter Bestand hat“, sagt er. Heißt: Die Feldkoordination ist strikt gegen jede Bebauung. Auch nicht ein bisschen, auch nicht nur am Rand. Schließlich wohnten nun wegen der explodierenden Mietpreise viele Menschen mit nicht so viel Geld, viele davon mit Migrationshintergrund, in für sie zu kleinen Wohnungen. „Und wo sonst könnten solche Leute Familienfeste feiern?“, argumentiert Broytman. Die Menschen in der Stadt bräuchten öffentliche, zivilgesellschaftlich organisierte Orte ohne Konsumzwang.

Das Haus

Etwas Ähnliches schwebt Cléo Mieulet, 52, auch für das ehemalige Flughafenterminal vor. Das ragt hinter ihr in den Himmel, abweisend und grau, ein 1,2 Kilometer langer Bogen aus Beton, Stein und Stahl, 7260 Räume, mehr als 300.000 Quadratmeter Geschossfläche. Das Gebäude wurde 1936 im Auftrag der Nationalsozialisten errichtet und war damals das größte Einzelbauwerk der Welt. Heute leben in einem seiner sieben Hangars Geflüchtete, ein paar Trakte mietet die Polizei, in anderen sitzt die Hausverwaltung, ansonsten steht es größtenteils leer.

„Die Räume eigneten sich für alle möglichen Nutzungen, nur nicht zum Wohnen“, sagt Mieulet. Sie hat darum das Bündnis „Transformation Haus und Feld“ mitgegründet. Es setzt sich dafür ein, dass im Flughafengebäude künftig erforscht wird, was eine Stadt dem Klimawandel entgegensetzen könnte – mit Werkstätten, Begegnungsorten für die Nachbarschaft und Reallaboren zur Erprobung von postfossilen Technologien oder neuen Formen des Zusammenlebens. „Das ist die größte Raum-Ressource, die wir in der Berliner Innenstadt haben“, sagt Mieulet. Nur leider gibt es seit dem Regierungswechsel in Berlin keine politische Unterstützung mehr für das Projekt. Wie es mit der Initiative weitergehen soll, ist daher ebenso unklar wie die Zukunft des gesamten Gebäudes. Weshalb Mieulet hier buchstäblich vor verschlossenen Türen steht. Dahinter 7260 Räume. Und ebenso viele Möglichkeiten. Sie gibt die Hoffnung nicht auf.