Als kleiner Junge schlich Nduduzo Makhathini an Sonntagen gern von Kirche zu Kirche. In den rollenden Grashügeln der südafrikanischen Region KwaZulu-Natal stehen viele davon zwischen Häuschen, Schotterpisten und freilaufenden Rindern in der Landschaft, am Horizont die mächtigen Drakensberge. Vor den Kirchentüren wartete der kleine Nduduzo auf Musik: europäische Liturgien, die auf einfachen Keyboards gespielt werden, Pastoren mit ihren mächtigen Stimmen und Gemeinden, die im Chor antworten. Er hörte genau zu, und wenn die Predigt begann, zog er weiter. Bei Einbruch der Dunkelheit landete der Junge schließlich oft noch bei den Ritualen der Sangoma. Die traditionellen Weissager werden in der Zulu-Kultur gerufen, wenn Menschen mehr über ihre Zukunft oder ihre Vergangenheit wissen wollen. Über Trommeln und Gesang treten sie in Kontakt mit den Ahnen. Trägt die Trance sie fort, leiten die Anwesenden ihre Musik per Call und Response in die Geisterwelt. Wieder hörte der Junge genau zu.
Nduduzo Makhathini ist heute ein Hüne mit sanfter Stimme und lautem Lachen – und der erfolgreichste Jazzmusiker Südafrikas. „Ich bin in einer hybriden Modalität von spirituellen Erfahrungen aufgewachsen“, sagt er mit südafrikanisch gerolltem „R“. Der 1982 geborene Pianist und Komponist ist ein gut gelaunter Philosoph, im Gespräch wie an seinem Instrument. Leichthändig zeigt er mit seiner spirituell beseelten Musik, dass die Wurzeln des westlichen Jazz in afrikanischen Kulturen liegen. Nach ihrer Verschleppung über den Atlantik sei den Sklavinnen und Sklaven in der neuen Welt nicht viel mehr geblieben als ihre Musik. „Einige der ältesten Erinnerungen aus Afrika sind im Jazz erhalten“, sagt Makhathini.
Mit seiner musikalischen Identitätspolitik ist Makhathini zwar aktuell der prominenteste Vertreter von politisch geprägtem Jazz aus Südafrika, aber bei weitem nicht der einzige. Gerade steht eine junge Generation von Jazzmusikerinnen und -musikern in den Startlöchern oder ist, um im Bild zu bleiben, vor kurzem losgelaufen, um klar Haltung zu Fragen der kulturellen Identität oder zu politischen Missständen zu beziehen. Musiker wie der Pianist Kyle Shepherd aus Kapstadt oder der Saxophonist Mthunzi Mvubu aus der nordöstlichen Provinz Transvaal sind groß geworden im Post-Apartheid-Südafrika. Mit ihrer weitgehend instrumentalen Musik haben sie etwas zu sagen – auch, weil die ehemals hoffnungsvolle Regenbogen-Nation zunehmend in der Misere steckt: Stromausfälle, Korruption, Gewalt, und immer wieder rassistische Ausschreitungen gegen Einwanderer aus anderen afrikanischen Ländern. Und weil Jazz in Südafrika schon seit rund 100 Jahren eine ausgesprochen politische Musik ist.
Doktor und Heiler
Nduduzo Makhathini hat begleitend zu seiner Musikkarriere gerade seinen Doktortitel gemacht mit einer Studie darüber, wie vorkoloniale afrikanische Religionen die kirchliche Musik auf dem Kontinent beeinflusst haben. Er hat außerdem als erster Künstler eine Platte auf dem neuen afrikanischen Ableger des Jazzlabels Blue Note veröffentlicht, im globalen Norden eine der heiligen Bastionen des Jazz. Makhathini ist heute auch selbst ein geweihter Sangoma, ein Heiler mit gutem Draht zu den Ahnen.
All das hört man deutlich auf Makhathinis aktuellem Studioalbum In The Spirit of Ntu, seinem zehnten, das 2022 erscheinen ist. Darauf spielt er, wie er selbst sagt, die schwarzen und weißen Tasten seines Klaviers so, wie ein Sangoma Knochen als Orakel wirft: improvisiert, spontan, als Verbindung zum Göttlichen, um prophetisches Wissen anzuzapfen. Nahtlos verschmelzen die typisch elastischen südafrikanischen Melodiebögen, die stets fröhlich und traurig zugleich klingen, mit westlichen Jazz-Tropen. Das „Ntu“ aus dem Titel bezeichnet dabei eine spirituelle Energie, die alle Menschen verbindet. Sie steckt etwa auch im Namen der südafrikanischen Ubuntu-Philosophie, deren Kern lautet: „Ich bin, weil ihr seid.“ Makhathini schreibt in den Linernotes, seine Platte erzähle von einer Welt, die entzwei gerissen worden sei, zerstört von Sklavenhandel, Kolonialismus und Apartheid. Die Musik sei inspiriert von seiner langen Suche nach Verortung. Jazz ist dabei Frage und Antwort zugleich.
Ihr Leben bisher haben junge Künstlerinnen und Künstler wie Makhathini natürlich nicht nur in Kirchen, an Musikhochschulen oder im Proberaum, sondern auch in Clubs verbracht. Darum finden sich in ihrem Jazz immer wieder auch die Beats und Bässe von Clubmusik. In Südafrika sind das vor allem Hip-Hop, House oder die House-Variante Kwaito, die in den Neunzigern den Soundtrack für den politischen Aufbruch nach dem Kollaps des rassistischen Apartheid-Regimes lieferte. Dazu kommt bei den Musikerinnen und Musikern eine durch Social Media geschärfte geografische und kulturelle Selbstverortung in einem afrikanischen Land mit einer langen, teils schwierigen Historie.
Dringliche Entwürfe
Mit diesen Hintergründen und Einflüssen ist der südafrikanische Jazz der Gegenwart das Pendant zu ähnlich dringlichen Entwürfen aus den USA. Hier interpretieren Musiker:innen wie Moor Mother oder Mackaya McCraven vor allem auf dem umtriebigen Label International Anthem ihren Jazz wieder sehr politisch, ebenfalls oft geprägt von elektronischer Musik und Hip-Hop. Auch in Großbritannien arbeitet mit Leuten wie Soweto Kinch, Binker Golding/Moses Boyd oder Nubya Garcia eine ganze Reihe kraftvoller junger Musikerinnen und Musiker an Jazzentwürfen, die von Politik wie von Clubmusik gleichermaßen gefärbten sind, allen voran der Tenor-Saxophonist Shabaka Hutchings mit seinem leider mittlerweile aufgelösten Projekt Sons of Kemet.
Natürlich berühren sich im Jazz, wo man schnell mal gemeinsam auf der Bühne improvisiert oder im Studio verschwindet, inzwischen auch die Szenen im globalen Norden und in Südafrika. Der Schlagzeuger Asher Gamedze aus Kapstadt etwa ist auf den wüsten Alben der US-Amerikanerin Angel Bat Dawid zu hören. Und der britische Star Shabaka Hutchings betreibt mit Shabaka & The Ancestors gleich ein regelmäßiges Projekt mit südafrikanischen Musikerinnen und Musikern, darunter Nduduzo Makhatini.
„Kein Wunder“, sagt Dave Durbach. Der 1983 in Johannesburg geborene Journalist und DJ betreibt in Südafrika das Label Afrosynth Records, wo er bereits zwei Compilations der Reihe New Horizons veröffentlicht hat – selbsterklärender Untertitel: Young Stars of South African Jazz. Vor allem mit den USA als Mutterland von Jazz seien die Verbindungen immer schon eng gewesen. Nicht nur seien Grundtechniken der Musik wie Improvisation, Rhythmik und die Bluesskalen einst mit den Sklavenverschleppungen in Amerika gelandet; Jazz kehrte dann auch Anfang des 20. Jahrhunderts mit den ersten Tonaufnahmen auf Schellackplatten in die Häfen von Kapstadt und Durban zurück.
In Südafrika habe man damals die musikalische Verwandtschaft schnell erkannt und die Musik als etwas Modernes wertgeschätzt, das westlich war, aber nicht weiß. „Die von der Rassentrennung unterdrückten Menschen sahen auch die Parallelen zwischen ihrem Kampf und dem der Afroamerikaner auf der anderen Seite des Ozeans“, sagt Durbach. Es war wie ein Echo über den Atlantik, in dem Solidarität und Mitgefühl mitschwangen.
In der Folge blühte Jazz in Südafrika wohl nicht nur so früh auf wie nirgendwo sonst auf der Welt abseits der USA, die Musik wurde auch ab den 1960ern zum Soundtrack des Kampfs gegen das unterdrückerische Apartheid-Regime – parallel zu ihrer Bedeutung für die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung. Die Stücke von legendären südafrikanischen Jazzmusikern wie Louis Moholo, Johnny Dyani, Dudu Pukwana, Basil Coetzee oder dem weißen Künstler Chris McGregor wurden auf zahllosen Demonstrationen und Versammlungen sehr laut abgespielt, genau wie der vor allem für diese Zwecke überraschend zurückgenommene Song Mannenberg – ‚Is Where It’s Happening‚ von Abdullah Ibrahim alias Dollar Brand. Sogar die im Westen erfolgreichen Popjazz-Superstars Hugh Masekela und Miriam Makeba hatten immer mindestens politische Untertöne.
Zugleich eröffnete Jazz in Südafrika Kontaktzonen zwischen Menschen unterschiedlicher Hautfarbe – zum Beispiel, wenn diese zusammen spielten oder Spaß hatten, obwohl sie eigentlich gar keine Zeit miteinander hätten verbringen dürfen. Schon gar nicht in vollgestopften, verschwitzten Nachtclubs und illegalen Bars. „In unserem Land haben wir nicht den Luxus, dass wir unpolitisch sein könnten“, sagt Dave Durbach, „und Jazz war in Südafrika immer schon ein Kommunikationsweg, eine Stimme des Widerstands und eine Stimme des Kampfes.“
Der Kampf war nicht einfach zu Ende
Natürlich war dieser Kampf nicht einfach zu Ende, als in Südafrika die Demokratie ausgerufen wurde. „Klar, 1994 endete die Apartheid“, sagt die Pianistin und Komponistin Thandi Ntuli. „Aber es ist ja nicht so, dass damit die Menschen, die so lange dagegen gekämpft haben, dann einfach friedlich nach Hause gegangen sind.“ Oft ging und geht der Kampf im Kopf weiter. Mit den fortlebenden Traumata ihres Landes beschäftigt sich die 1987 geborene Ntuli auf ihren Platten. Sie hatte bereits klassisches Piano gespielt und ging tanzen zu Hip-Hop und Kwaito, als sie eines Tages jemanden improvisieren hörte. Fortan war sie Feuer und Flamme für die Instant-Kompositionen von Jazz. An der Universität Kapstadt wurde sie 2007 zum Jazzklavier-Studium aufgenommen, obwohl sie überhaupt noch keinen Jazz spielen konnte.
Ntuli hat auch schon Housetracks mitproduziert oder mit der experimentellen US-amerikanischen Sängerin und Rapperin Georgia Anne Muldrow zusammengearbeitet, die in ihrer Musik eine gewisse Psychedelik pflegt. Auch das eigene, mittlerweile dritte Album von Ntuli, Blk Elijah & The Children of Meroë von 2022, führt hinter dem psychedelisch bunten Cover in eine Welt voller freundlicher Verspultheiten. Für Ntuli ist es eine Reise ins eigene Ich. „Etwas, was ich auf dem Weg gefunden habe, sind unter anderem meine Ahnen“, sagt Ntuli. Bei den meisten Südafrikanerinnen und Südafrikanern sei der Kontakt zu den Vorfahren abgerissen, ihre Identitäten seien darum fragil. „Die meisten können ihre Familie nicht vier Generationen zurückverfolgen, weil durch die Apartheid alles unterbrochen und zerstört wurde.“ Das präge das Land weiterhin, und die Traumata aus der gewaltvollen Vergangenheit seien einer der Gründe für die horrenden Raten an Femiziden und häuslicher Gewalt.
Dieses Thema beschäftigt auch das Elektronikjazz-Duo IzangoMa. „Schwester, Frauen, Mütter sind der Anfang von allem“, sagt Sibusile Xaba, 38 Jahre alt, im Videocall, während Kleinkinder über ihn krabbeln und verschmuste Hunde sich ins Bild drängeln. Dieser Umstand werde in Südafrika dieser Tage zu oft vergessen.
Der Sänger, Pianist und Gitarrist Xaba, ein heiterer Dreadlockträger, gehört zu den mutigsten und experimentierfreudigsten südafrikanischen Jazzmusikern. Schon sein entfernter Onkel Ndhiko Xaba war vor mehr als 50 Jahren mit dem selbstbetitelten Album seiner Band Ndikho Xaba and the Natives ein Pionier für spirituell-politisch inspirierten Jazz. Zusammen mit dem ehemaligen House-DJ und Beatproduzenten Ashley Kgabo, 40 Jahre alt, veröffentlicht Sibusile Xaba jetzt als IzangoMa zeitgemäß elektronisch unterlegten Quasi-Jazz. Das Debütalbum Ngo Ma wird im Mai erscheinen. Titel und Name des Duos kommen von der Zulu-Phrase „iza ngo ma“, was „Es kommt von der Mutter“ bedeutet. „Wir wollen weibliche Energie feiern und die Menschen die Kraft der Weiblichkeit sensibilisieren“, sagt Xaba.
Vorstellungen destabilisieren
Etwas tiefer gräbt der 36 Jahre alte Gitarrist Vuma Levin, der aktuell wohl am explizitesten politische junge Jazzmusiker aus Südafrika. Er will nach eigener Aussage die Vorstellungen davon destabilisieren, was Afrikanisch-Sein überhaupt bedeutet – und zugleich die Schwarze, indigene südafrikanische Musik erkunden, die in der Geschichte so lange unterdrückt worden war. Levin ist im kleinen Königreich Swasiland geboren, das heute Eswatini heißt. Dort war sein Vater untergetaucht, der dem bewaffneten Arm der damaligen Widerstandsbewegung ANC angehörte, als diese gegen den rassistischen südafrikanischen Staat kämpfte. Seine Eltern schickten ihn in Johannesburg auf eine private katholische Schule, die als eine der ersten die Segregation abgeschafft hatte. Viele Kinder von ANC-Kämpferinnen und -kämpfern kamen dort unter. Über die Blues- und Rockplatten seines Vaters fand Levin mit 18 Jahren zur Gitarre, über die Jazzsamples von Trip-Hop-Bands wie Morcheeba oder Portishead dann noch später zum Jazz.
Als Levin schließlich am prestigeträchtigen Amsterdamer Konservatorium studierte, veränderte das sein Selbstbild: „Hier habe ich mich so Schwarz und afrikanisch gefühlt wie niemals zuvor“, erzählt er. „Die Erfahrung, in Europa zu leben, hat mich sehr politisiert.“ So habe ihn ein Dozent, der es wohl gut meinte, einmal beiseite genommen und gesagt, er wolle Musik von dort hören, wo er, Levin, herkomme. „Der hatte eine sehr essentialistische Idee davon, was es heißt, afrikanisch zu sein, Trommeln, Leinengewänder und so. Dabei war meine Musik damals Radiohead oder Trip-Hop.“
Levins in Europa aufgenommene Alben wie The Spectacle Of An-Other sind intellektuell angelegte Musik-Essays, bei denen er sich unter anderem auf die Kolonialismuskritiker Frantz Fanon und Achille Mbembe bezieht. Mit sorgfältig konstruiertem Fusionjazz werden hier Fragen von Identität, Essentialisierung und kultureller Aneignung untersucht. Inzwischen lebt Levin wieder in Johannesburg, wo er Jazz an der Universität unterrichtet.
Für sein neues, viertes Album The Past is Unpredictable, Only the Future is Certain verbindet er Transkriptionen von aus präkolonialen Zeiten überlieferten Gesängen und Melodien für Kalebassenbögen aus Südafrika mit europäischer Kunst- und Kammermusik zu inspirierten, drängenden Kompositionen. „Jazz ist eine hybride Musik, und damit kann er in Südafrika eine Plattform sein, um Identität zu verhandeln“, sagt Levin. Das gilt besonders für ihn, denn seine Mutter gehört zum Volk der Swati, sein Vater ist ein weißer Jude. „Ich habe eine zutiefst hybride Identität“, sagt Levin. So hybrid und fluide wie die gesamte Kultur des Landes, die es über diese Musik zu entdecken gibt.
Nduduzo Makhathini: „In the Spirit of Ntu“ ist bei Blue Note/Universal erschienen.
Thandi Ntuli: „Blk Elijah & The Children of Meroë“ ist digital bei Ndlela Music erschienen und bei Apple Music oder Spotify zu hören.
IzangoMa: „Ngo Ma“ erscheint am 26.05.2023 bei Brownswood/Rough Trade.
Vuma Levin: „The Past is Unpredictable: Only the Future is Certain“ erscheint am 19.05.2023 bei DOX Records.