Porträt: Ich und Ich

m-paper / muehlhausmoers

Die eineiigen Zwillinge Hendrik und Mathias Mahlow haben bislang fast jede Stunde ihres Lebens gemeinsam verbracht – und sind glücklich damit. Ist das seltsam? Oder ein Lebensmodell, von dem die hyperin- dividualisierte Gesellschaft noch etwas lernen kann?

Hendrik und Mathias Mahlow wachen jeden Morgen in einer perfekten symmetrischen Anordnung auf. Sie liegen in zwei spiegelverkehrt angeordneten und eingerichteten Zimmern, in einer austarierten Balance: zwei Mal das gleiche Bett, zwei Mal der gleiche Schrank, zwei Mal der gleiche Schreibtisch mit Computer darauf. Dazwischen nur eine halbe Wand. Das Erste, was Hendrik und Mathias Mahlow sehen, wenn sie morgens die Augen aufmachen, ist ein Spiegelbild ihrer selbst.

Die beiden Menschen in den beiden Betten sind gleich alt, sie sind gleich groß, für Ungeübte sehen sie ziemlich gleich aus. Hendrik und Mathias Mahlow, 37, sind eineiige Zwillinge. Am Standrand von Potsdam bewohnen sie zusammen ein kleines Haus. Sie arbeiten als Bauingenieure in derselben Firma, dorthin fahren sie täglich mit dem gemeinsamen Auto. Derjenige, der zuerst aufsteht, wählt jeden Morgen das Outfit für den Tag. Und zwar dasselbe für beide.

In einer Welt, die immer mehr Wert auf das Individuum legt, haben sich die Mahlows bewusst für ein Gegenmodell entschieden. Die Zwillinge sind nicht zwei Ichs, sondern ein Wir. Sie treten fast immer im Doppelpack auf. Wenn sie über sich sprechen, sagen sie so gut wie nie „ich“, sondern fast ausschließlich „wir“ und höchstens ein zurückhaltendes „man“, wenn es wirklich mal um einen von ihnen gehen muss.

Zwei Doppelgänger, ein Doppelleben, das wirft Fragen auf in einer hyperindividualisierten Welt: Wie organisiert man so einen Alltag? Wie fühlt sich so ein Leben an? Leiden die beiden auch mal unter der Zweisamkeit? Und wie kam es überhaupt dazu? Die Mahlows antworten offen auf solche Fragen. Statt sich in ihrer Welt zu verschanzen, erzählen die Zwillinge gern von ihrem Leben – auch weil sie finden, dass es so unnormal gar nicht ist.

Aber man selber zögert doch kurz, wenn sie einem an ihrem Arbeitsplatz zwischen Aktenregalen und Gummibäumen gegenübersitzen.. Vier blaue Augen, zwei rote Bärte, zwei Mal dasselbe offene Gesicht. Beide tragen identische bordeauxrote V-Ausschnitt-Pullis, darunter blaukarierte Hemden und die gleichen dunkelblauen Jeans. Man überlegt dann für einen Moment, ob es vielleicht besser wäre, jetzt doch nicht so viel zu fragen. Weil zu viele Fragen dieses sorgsam ausbalancierte Miteinander durcheinanderbringen könnten.

Ein ganz normales Doppelleben

Solche Gedanken machen sich die Mahlows nicht. Stattdessen nennen sie immer ihren Vornamen, wenn sie etwas aufs Band sprechen. So könne man hinterher ihre Stimmen besser auseinanderhalten. Um die optischen Unterschiede zwischen sich zu demonstrieren, halten sie ihre Gesichter kurz direkt nebeneinander. Sie finden, dass es gibt Zwillinge gibt, die sich ähnlicher sehen als sie. Und natürlich sind sie nicht zwei Mal derselbe Mensch: Hendrik ist Linkshänder und kommunikativer, kontaktfreudiger, temperamentvoller. Mathias, der Rechtshänder, ist zurückhaltender, ein bisschen skeptischer. Er erlaubt sich manchmal Zwischentöne und vorsichtige Fragen zu diesem Leben in Zweierkonstellation.

Eine erste Erinnerung an den anderen haben sie nicht, sagen sie. Der andere, der war einfach von Anfang an da. Schon im Kinderwagen zogen ihre Eltern sie gleich an. „Für uns ist das normal, wir kennen es nur so“, sagt Hendrik. Und so haben sie den identischen Kleidungsstil als Erwachsene einfach beibehalten.

Hendrik: „Warum sollte man es ändern?“

Matthias: „Man zieht das jetzt halt durch.“

Seit ihrer Geburt waren die Mahlows nur einmal länger als ein paar Stunden voneinander getrennt. 2014 war das, Hendrik musste drei Tage zu einer Schulung nach Köln. Haben sie sich da vermisst? Ja, sagen beide, ohne zu zögern und tasten eine Weile nach Begriffen, die wiedergeben könnten, wie sich die Trennung angefühlt hat. „Seltsam“, „komisch“, „ungewohnt“, sagen sie. Vor allem für Mathias, der zu Hause allein in diesen symmetrischen Zimmern lag. Sie haben dann jeden Abend miteinander telefoniert.

Geboren wurden die Mahlow-Brüder in Chemnitz, damals noch Karl-Marx-Stadt. Nach der Wende zog die Familie nach Potsdam. Dort machten sie zusammen ihren Realschulabschluss. Mit ihrer alten Schule verbindet sie auch ihr einziges echtes Hobby: Seit ihrem Abschluss führen sie eine Schulchronik, zurückreichend bis 1848. Warum? „Was sich bewährt hat, das muss man nicht ändern“, das ist ein typischer Satz der Mahlows. Es folgte eine Ausbildung im Handwerk, Malern und Lackierern, im selben Betrieb. Nach dem Fachabi schrieben sie sich an der Uni ein, beide in Potsdam, beide im Fach Bauingenieurswesen. Schließlich fingen sie 2011 im selben Büro an, Hendrik als Konstrukteur, Mathias als Brandschutzplaner.

Arbeit und Fußball, Fußball und Arbeit

Die Arbeit, so erzählen sie es, bilde den ersten wesentlichen Pfeiler ihres Lebens. Als Ingenieure denken sie logisch und pragmatisch, lösen gern Probleme, diskutieren kurz über den effizientesten, praktikabelsten Lösungsweg und legen direkt los, immer zu zweit. Anerkennung sollte es für gute Leistungen geben, finden sie, nicht für Inszenierungen.

Der zweite Pfeiler im Leben der Mahlows ist ihr Fußball-Verein: SG Eintracht 90 Babelsberg, 1. Kreisklasse. Hendrik steht im Tor, Matthias spielt in der Abwehr. Mit 37 Jahren sei der Fußball nicht mehr ganz so einfach wie früher. „Aber man ist so mit dem Verein verbunden, dass man noch alles reinbuttert, was geht, solange man noch geradeaus laufen kann“, sagt Mathias. Die Mahlows bilden auch den Vorsitz des Vereins. Mathias ist Erster Vorsitzender und Webmaster, Hendrik Zweiter Vorsitzender und Schatzmeister. „Wenn man den Job gut macht, dann reißt sich auch keiner darum“, sagt Mathias, denn natürlich macht das Ehrenamt eine Menge Arbeit: Nachwuchssorgen, Finanzkrams, Orgazeugs, der Klassenerhalt. Über die Zwangspause durch den Corona-Lockdown waren sie, das lässt sich hinter vorgehaltener Hand raushören, deswegen fast ein bisschen erleichtert. Mal kurz durchatmen, innehalten. Sich beschweren aber, das würden die Mahlows nie. Wären sie nicht mehr da, verlöre der Verein seinen Vorstand und zwei wichtige Spieler auf einmal. Und so machen sie eben weiter.

Arbeit und Fußball, Fußball und Arbeit. „Mehr brauchen wir nicht“, sagen die Mahlows. Einen typischen Tag beschreibt Hendrik so: „Wir gehen den ganzen Tag auf Arbeit, und abends ist dann meistens Fußballtraining. Und wenn nicht, dann ist irgendwas anderes mit dem Verein.“ Dazu kommen Haus, Garten, Grundstück. Und sie helfen gern. Wann immer ein Bekannter um einen Gefallen bittet – die Mahlows sind zur Stelle. Streichen, Umziehen, solche Sachen. Das Wohl der Gemeinschaft ist ihnen wichtig. Wichtiger vielleicht sogar als ihre eigenen Interessen.

Hendrik: Wir fühlen uns immer verpflichtet. Bestimmt nutzt uns auch mal jemand aus, aber wir empfinden es nie als Ausnutzen, weil wir die Sachen gerne machen. Das ist auch für uns positiv, denn wir sind ja Teil der Gemeinschaft.

Mathias: Andere reden und reden, aber vom Reden allein ist noch nie was passiert. Ärmel hochkrempeln und arbeiten, das ist mehr so unseres.

Hendrik: Wir sind Männer der Taten, nicht der Worte.

Mathias: Wobei wir schon manchmal darüber nachdenken: Irgendwann ist man Mitte 40 und hat immer für alle anderen das letzte Hemd gegeben, und dann steht man da.

So lange es Arbeit und Fußball gibt, ist Familiengründung kein Thema. Darauf haben sie sich geeinigt. Bislang hatten sie jedenfalls keine festen Freundinnen. Obwohl sie sich das durchaus wünschen. In ein, zwei Jahren vielleicht, sagen sie. Aber konkrete Überlegungen, wie eine Beziehung in ihr Lebensmodell passen könnte, tun sie ab. Dabei ist es kompliziert: Würde eine weitere Person das Bündnis der Brüder nicht lockern oder lösen? Die Symmetrie zwischen ihnen stören oder für immer zerstören? Über solche Dinge hätten sie sich noch keine Gedanken gemacht, sagen sie.

Das Wir als Schutz

Fesselt ihre Gemeinschaft die Mahlows also auch aneinander? Oder wiegt der Schutz gegen die Zumutungen der modernen Welt mehr, gegen Auswahlstress, Zwang zur fortlaufenden Selbstoptimierung, ständig neue Reizschwellen? „Viele Leute müssen jeden Tag was Neues erleben“, sagt Hendrik. „Das ist bei uns nicht so, unser Leben ist ruhig wie eine flache Welle.“ Und natürlich bewahrt ihr Lebensmodell die Mahlows auch vor Einsamkeit. Sie sind halt nie allein. Das gibt auch Sicherheit „Wir haben den Vorteil, dass wir immer einen zum Reden haben“, sagt Mathias dazu.

Als Gegenmodell zu den Eigenes-Ding-Machern und Immer-größer-Skalierern der singularisierten Gesellschaft würden sich die Mahlows eher nicht bezeichnen, sie sind ja keine Männer der großen Worte. „Aber manchmal fasst man sich schon ein bisschen an den Kopf, was manche Leute alles so machen, um interessant zu sein“, sagt Hendrik. „Da bin ich froh, dass ich leben kann, wie ich lebe.“

Es ist ein Leben, das die Mahlows heute sogar noch tiefer hängen als früher, indem sie ihren Radius eher verkleinern, als ihn auszuweiten. Früher seien sie noch zum Campen an die Ostsee gefahren, erzählen sie. Aber seitdem sie ihre Jobs angetreten haben, seien sie dort auch nicht mehr gewesen.

Mathias: Dass man jetzt unbedingt wegfahren muss, das ist in den letzten Jahren irgendwie ein bisschen verschütt’ gegangen. Heute ist man eher zu Hause und lässt es sich da gutgehen.

Hendrik: Die ganzen Umstände, die Arbeit, das Ehrenamt, das gab das irgendwann nicht mehr her. Wir sind hier zufrieden, wir müssen nicht die ganze Welt bereisen. Zu Hause ist es doch auch schön, da gibt es immer viel zu tun.