Es hallt etwas durch diese Gassen mitten in der Nacht. Im Grundrauschen von Autoverkehr und naher Atlantikbrandung ist es zunächst kaum auszumachen – ein mäandernder Gesang, blechern und entrückt, so als rufe der Muezzin schon wieder zum Gebet. Aber dieser Ruf hört nicht auf, stattdessen kommen Tonspuren hinzu: Antwortchöre, Klatschen, Trommelschauer. Also raus auf die Straße, wo der Sound mit jeder Hausecke lauter wird. Und an einer Kreuzung im Halbdunkel stehen sie dann: vielleicht 40, 50 junge Männer, manche in Sportswear, andere in Boubous, der westafrikanischen Herrenbekleidung. Schnell kommen aus den Straßen ringsum mehr. Im Licht von Smartphones und vorbeiziehenden Autoscheinwerfern tanzt die Menge um ein Zentrum, in das ein Mikrofonkabel führt und in dem folglich der MC stehen muss. Man hört seine Verse aus den zerbeulten Hornlautsprechern, die ringsum an die Rohbauten gehängt sind, es sind Zeilen voller Nachhall und Verzerrung. Die Versammlung wiederholt sie inbrünstig, ein paar Trommler improvisieren dazu. So entspinnt sich eine Spontanparty, unter dem Mond, der hier von oben abnimmt, an einer Straßenecke von Dakar, der Hauptstadt Senegals.
Die so frenetische wie freundliche Open-Air-Feier demonstriert dem Besucher direkt in der Nacht seiner Ankunft, wie eng in dieser Stadt, in diesem Land populäre Musik und der Islam zusammenhängen. Denn die singenden und tanzenden Männer an der Straßenecke feiern eine Party zu Ehren ihrer islamischen Führer, der Quasiheiligen Scheich Amadou Bamba und Scheich Ibra Fall. Beide sind schon seit fast 100 Jahren tot, aber ihre schwarzweißen Stencilporträts hat jemand erst kürzlich an eine Wand an dieser Kreuzung gesprayt.
Religion und Musik, beides ist hier von herausragender Bedeutung. Schon im Text der Nationalhymne, verfasst vom Dichter, Philosophen und ersten Präsidenten Léopold Senghor, tauchen lokale Instrumente auf: „Zupft eure Koras, schlagt eure Balafone.“ Zugleich aber sind in Dakar Minarette mit Straßen-Soundsystems omnipräsent, die Imamrufe schwirren fünf Mal am Tag durch die staubige Luft, Geschäftsleute zerknittern die Bügelfalten ihrer Anzüge, wenn sie sich dann in einer ruhigen Ecke zum Gebet niederknien.
Senegal ist ein fast zu 100 Prozent muslimisches Land. Natürlich gibt es hier, wie ja fast überall auf der Welt, engstirnige und weniger engstirnige Gläubige, die um Vorherrschaft ringen. Doch wie auch in vielen anderen Ländern Subsahara-Afrikas ist der Islam Senegals mehrheitlich immer noch bunt, laut, lustig und weltzugewandt. Ein Volksislam, der sich in den vergangenen Jahrhunderten freudig mit lokalen Religionen vermischt hat. Und so sind in Dakar nicht nur überall Bilder von Heiligen zu sehen, was beides schon nicht strengeren Koranauslegungen entspricht: Heilige zu verehren, und diese dann auch noch abzubilden, und zwar auf Schneiderei-Ladenschildern ebenso wie auf den Heckscheiben von klapprigen gelben Minibussen oder als Stencil-Graffiti auf Hauswänden. Hier hat diese Religion auch noch die Popmusik geprägt wie sonst vielleicht nur das Christentum den afroamerikanischen Soul. Und das bei einer Religion, die in strikteren Auslegungen Musik ablehnt. Die rigorose wahhabitische Interpretation beispielsweise, die Saudi-Arabien seit Jahrzehnten mit Petrodollars auch in Senegal zu etablieren versucht, bislang eher erfolglos.
Stalinismus auf dem Minivulkan
Nach der kurzen Nacht geht blass die Sonne auf über Senegal und der Sahelzone. Aus diesem Land, einem der ärmsten der Welt, kommen viele der Flüchtlinge, die in Spaniens Gewächshäusern schuften, auf Roms Straßen Kopien von It-Bags feilbieten oder in Berliner Parks Gras verticken. Weshalb es ein seltsames Gefühl hinterlässt, wenn man mal eben mit einem Flugticket die Strecke zurücksaust, die diese Menschen unter Lebensgefahr in winzigen Bötchen auf dem Atlantik oder in den Händen von Halsabschneidern durch die Sahara zurückgelegt haben.
Im Morgengrauen verschafft man sich am besten einen Überblick über die Hauptstadt Dakar, wenn man auf das Monument der Afrikanischen Renaissance klettert. Die 50 Meter hohe Statue, die größte Afrikas, zeigt eine kantig gestaltete Familie mit Kind. Die Bronzefiguren sehen nicht nur so aus, sie wurden tatsächlich von nordkoreanischen Stalinismus-Monument-Experten errichtet. Das Bauwerk steht auf einem Zwillingshügel aus zwei Vulkankegelchen, im Volksmund so treffend wie ungerührt „les mamelles“ genannt: die Zitzen. In einer Richtung sieht man von hier den westlichsten Punkt des Kontinents, die Landzunge Pointe des Almadies. Das nächstgelegene Festland dahinter ist Recife, Brasilien. In die andere Richtung geht der Blick Richtung Innenstadt, wo die vorherrschende Farbe ein sonnengebleichtes Ocker ist.
Dakar wurde 1857 von französischen Kolonialisten auf einer dreieckigen Halbinsel gegründet, heute wohnen hier zwischen drei und vier Millionen Menschen, ziemlich kompakt für eine afrikanische Großstadt. Je weiter nach unten auf dem Halbinsel-Dreieck man kommt, in die alten Stadtteile Medina oder Plateau, desto voller und dichter wird es. Hier kämpfen zwischen Hochhausglastürmen und bröckelnden Kolonialbauten SUVs um Raum mit Eselskarren, die man als Taxis mieten kann. Auf unbefestigte Pisten mitten in der Stadt kriecht der Sand der nicht so fernen Sahara.
Direkt vor der Stadt liegt die Insel Gorée. Hier wurden früher Sklaven auf die Fahrt ohne Wiederkehr in die Neue Welt verladen. Heute landet man hier mitten in einem unerträglichen Widerspruch aus der Idylle bunter Häuschen, über deren alte Mauern Hibiskusblüten wuchern, und der grauenhaften Geschichte dieses Orts. Auf Gorée haben die Häuser Extrazellen für Sklaven im Kindesalter, zwischen dem 14. und dem frühen 20. Jahrhundert ist Schätzungen zufolge bis zu ein Drittel der regionalen Bevölkerung gefangen und verschifft worden. Auf dem Bötchen zur Insel fahren denn auch einige Afroamerikaner mit, auf der Suche nach der Vorgeschichte ihrer Familien.
Die originalen Rastas
In der noch milden Vormittagssonne schlendern an der Tankstelle ein paar freundlich grinsende Typen ans Auto. Sie tragen dicke Wollmützen mit Dreadlocks darunter, Patchwork-Klamotten sowie Amulette aus Leder und Holz, die auffällig den Gris-Gris-Talismanen älterer örtlicher Religionen ähneln. Wer kurz mal vergisst, dass dies ein muslimisches Land ist, könnte an Rastafarians denken. Die fröhlichen Gesellen wären darüber allerdings empört, denn sie betrachten sich als die Originale, von denen die Newcomer auf Jamaika diesen Style nur geklaut haben. Es sind Anhänger von Scheich Ibra Fall, Mitglieder der „Baye Fall“-Bewegung, was übersetzt „Vater Fall“ bedeutet. In halben Kalebassen sammeln sie Geld für eine Pilgerreise in ihre heilige Stadt Touba im Landesinneren. Einige Baye Fall rauchen Jamba, wie man hier Marihuana nennt, aber sie sehen auch harte Arbeit als Weg zur spirituellen Erleuchtung an. Es sind gläubige Muslime, auf ihre Art.
„Ein Baye Fall ist jemand, der ernsthaft ist, der immer die Wahrheit sagt, der mit Entschlossenheit sein Ziel verfolgt und dabei bescheiden bleibt“, erklärt Beauga Seck, selber mit Dreadlocks und Lederamuletten ausgestattet. Als „Baye Fall“ gilt alles, was irgendwie bodenständig ist. Selbst wenn man als Europäer auf der Ladefläche eines Pickups mitreist, rufen einem die Bus-Schaffner von der Autobahnspur nebenan durch den Fahrtwind anerkennend „Toubab Baye Fall“ zu, was „weißer Baye-Fall-Anhänger“ bedeutet – nur weil man nicht komfortabel in der Fahrerkabine sitzt.
Die Baye-Fall-Bewegung ist Teil der Mouriden, einem von vier wichtigen Sufi-Orden in Senegal. Solchen Orden gehört das Gros der senegalesischen Muslime an. Sufis sind Mystiker, also auf innere Erfahrung der Religion bedacht. Viele von ihnen geben Disziplin, Enthaltsamkeit, aber auch Toleranz als Werte für gute Muslime vor. An der Spitze steht ein politisch und wirtschaftlich mächtiger Kalif. So ist der Mouriden-Orden beispielsweise auch deshalb sehr einflussreich, weil er unter anderem die wichtige Erdnussindustrie des Landes beherrscht. Manche Orden sind wie kleine Parallelstaaten, einige unterhalten sogar bewaffnete Einheiten.
Mit der Piroge über den Black Atlantik
Mittags gleißt die Sonne über Yoff, einem Stadtteil am nördlichen Rand von Dakar. Hier liegt der eigentliche Ursprung der Stadt, weil hier schon der Stamm der Lebou siedelte, als die Europäer das Land entdeckt zu haben glaubten. Heute gehören die Lebou zum Großteil der Layene-Bruderschaft an, deren Gründer Seydina Limamou Laye direkt am Strand von Yoff in einem Mausoleum mit angrenzender Moschee bestattet ist. Dem Volksglauben zufolge hat Laye diesen Boden dem Meer abgerungen. Ihm zu Ehren sind Rauchen und Alkohol nicht gern gesehen, denn bei zu vielen Sündenfällen könnte sich das Meer erzürnt das Land zurückholen. Das macht Aufenthalte in Yoff zu einer tendenziell gesunden Angelegenheit. Der Stadtstrand besteht aus schönstem Sand, ist aber garniert mit alten Autoreifen, Plastiktüten und Fischresten. Von hier fahren allmorgendlich Fischerpirogen aufs Meer, bunt mit Blumen, Kringeln, Pfeilen und Sinnsprüchen bemalt. Mit solchen Minischiffchen brechen Senegalesen sogar zur Fahrt nach Europa auf.
Aus der anderen Richtung des Black Atlantic kam in den späten 1930ern die erste Popmusik ins Land: auf Schiffen aus der Neuen Welt, deren Seeleute Schellackschallplatten im Gepäck hatten. Auf vielen davon fanden sich Rumbas oder Sons aus Kuba. Die Genres schlugen sofort eine klingende Saite im rasch wachsenden Dakar an. Vielleicht auch deshalb, weil ja die Wurzeln afrokubanischer Musik wiederum auf dieser Seite des Atlantiks liegen. Vor allem die europäisch geprägten Eliten sprangen darauf an, die von den französischen Kolonialherren gütig „les evoluées“ genannt wurden, die Entwickelten. Rasch gründeten sich Tanzorchester, die Salsa oder Pachanga spielten, inklusive Gesang auf Spanisch. Dazu gab es Paartanz.
Mit der Unabhängigkeit Senegals 1960 brachten Bands wie das Orchestra Baobab dann zunehmend lokale Elemente in die Musik. Zunächst vor allem Texte in der Umgangssprache Dakars, Wolof, bald aber auch die Sabars, eine Conga-ähnliche Trommel, die mit einem Stock und der Hand gespielt wird. So entstand die bis heute wichtigste senegalesische Popmusik: Mbalax, was auf Wolof so viel heißt wie „Begleitung“ oder „Rhythmus“. Sie löste den Gegensatz auf zwischen den urbanen Eliten und der Landbevölkerung, welche die Franzosen noch als „les indigènes“ herabgestuft hatte. Mbalax war erstmals Popmusik für das gesamte Volk.
„Eben darum hat Mbalax auch immer den Islam im Kern“, sagt Adamantios Kafetzis, der seit fast 15 Jahren in Dakar arbeitet und mit seinem Label Teranga Beat zahlreiche rare Platten aus Senegal und dem kulturell eng verwandten Gambia wiederveröffentlicht hat. So sind Mbalax-Sängerinnen und -Sänger nicht nur häufig eigentlich traditionelle Guewel-Geschichtenerzähler, die französische Kolonialisten später „Griots“ genannt haben. Ihre Texte bestehen zudem auch ganz selbstverständlich aus islamischen Lobpreisungen, etwa des Quasi-Heiligen Bamba. Schon das Debütalbum der Band Le Sahel, nach Kafetzis’ Meinung die erste echte Mbalax-Platte, hieß 1975: „Bamba“. Und auch Youssou N’Dour, im globalen Norden der bekannteste Mbalax-Musiker dank Kollaborationen mit Peter Gabriel und Neneh Cherry („7 Seconds“), hat Bamba-Lobpreisungen im Repertoire.
So entstand eine kulturell enorm aufgeladene Musik mit den vielleicht komplexesten Rhythmen des an komplexen Rhythmen ja nicht gerade armen Kontinents. Und obwohl diese Musik dabei trotzdem noch enorm eingängig ist, bleibt sie doch durch eine unsichtbare kulturelle Grenze weitgehend auf Senegal und Gambia beschränkt. Selbst die üblichen Afrika-Plattenchecker haben hier seltsam blinde Flecken. Und damit nicht genug: Adamantios Kafetzis zufolge stirbt Mbalax – eigentlich eine Livemusik für große Bands, inklusive Trommlern, Tänzern und einer Bläsersektion – gerade aus, wie so viele Musiken für große Bands in Afrika. „Die Jungen sind nicht mehr interessiert, viele hören inzwischen lieber eindeutiger religiöse Musik“, sagt er. „Die Älteren können sich die Clubs mit großen Livebands nicht mehr leisten. Und die Wohlhabenden gehen lieber in House- oder HipHop-Clubs.“
Familienfeier in der Westernstadt
In der trägen Sonne des Nachmittags rollt die Landschaft vorbei, geronnene Savannen, Palmenhaine voller Plastikflaschen, zwischendurch immer wieder die heiligen Baobab-Bäume, die Allah mit den Wurzeln nach oben eingepflanzt haben soll. Im Auto erklärt Mark Ernestus, der seit 2011 mit Musikern in Dakar arbeitet und mit seiner Ndagga Rhythm Force ein ganz eigenes Mbalax-Derivat produziert, seine Sicht: „Ich denke Mbalax steckt seit einigen Jahren in einer Sackgasse – es gibt eine Verengung auf ganz wenige Superstars. Vielfalt und Originalität bleiben auf der Strecke. Trotzdem ist es immer noch Senegals ganz eigene populäre Musik und der größte gemeinsame Nenner. Jeder ist schließlich damit aufgewachsen und hat irgendwo zwischen den verschiedenen Ausprägungen und Generationen noch einen Bezug dazu.“
Das Auto ist auf dem Weg zu einer Familienfeier in Tivaouane, einer kleinen Stadt drei, vier Stunden nordöstlich von Dakar. Dort ducken sich niedrige Häuschen in der Hitze, an denen verbogene Gleise vorbeiführen, in der Ferne flirrt ein Wasserturm – eine Westernstadt in Westafrika. Einzige Sehenswürdigkeit ist eine große Moschee mit Korkenzieher-Minarett, denn Tivaouane ist die heilige Stadt des Tidschaniya-Ordens und lockt ein Mal im Jahr hunderttausende Pilger an. Irgendwo hier trifft sich in einem Häuschen mit Innenhof die Familie von Mbene Diatta Seck, der Sängerin von Ndagga Rhythm Force, um der vor einem Jahr gestorbenen Matriarchin zu gedenken. Wenn Mbene Diatta Seck nicht gerade irgendwo auf der Welt auf der Bühne steht, singt sie in Dakar als Griot bei Hochzeiten, Namensgebungsfeiern oder Geburtstagen. Dafür rauscht sie täglich mit immer neuen Haartrachten und in prächtigen, farblich genau abgestimmten Kleidern ab in den Nachmittag oder in die Nacht.
In Tivaouane ist sie an diesem Tag jedoch nur ein ganz normaler Gast und sitzt auf dem Hof zwischen lauter Frauen in lila-rot-hellblauen Gewändern samt passenden Kopftüchern, die Essen kochen und plaudern. Drinnen hinter einem Vorhang ist es kühler, hier wird ultrastarker Ataya-Tee gereicht, in dem der Löffel vor Zucker fast steht. Irgendwann, als die Zeit innehält, obwohl man vor Koffein und Zucker innerlich vibriert, teilt sich der Vorhang, und ein bescheiden dreinblickender Mann in lila Kaftan und mit hellblauem Turban gleitet nach drinnen. Er beginnt sogleich, mit fester, lauter Stimme zu den vielleicht zehn, zwölf Anwesenden zu sprechen. Hinter ihm führt ein Junge einen verschmitzt lächelnden Mann in Grün herein, der in den Sprechpausen den Raum mit einer gewaltigen Gesangsstimme füllt.
Es ist eine Predigt, der Viertels-Vorbeter und sein Sänger sind vorbeigekommen. Als Ungläubiger strafft man sich sogleich und fühlt sich mindestens zu Ernsthaftigkeit, besser noch zum Gehen angehalten. „Quatsch, bleibt hier und macht Fotos, das ist doch bestimmt interessant für euch“, raunen einem daraufhin die Sitznachbarn zu. Die meisten verfolgen zwar die Predigt aufmerksam, sie schnipsen in der Luft, um Zustimmung zu signalisieren. Ein Mann stellt eine lange Frage und weint daraufhin. Andere jedoch telefonieren zwischendurch leise oder schlafen sogar ein – um dann aufzuschrecken, wenn der Mann in Grün seine große Stimme wieder rausholt. So geht das ewig. Und so versickert dieser frühe Abend in Senegal einmal mehr zwischen Religion und Musik. Bis die Sonne ihr Licht wieder von der Sahelzone nimmt. Und schließlich ganz hinter dem Atlantik versinkt.