Länderanalyse: Nigeria

Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung / GfK

Nigeria ist die drittgrößte Volkswirtschaft des afrikanischen Kontinents. Es ist ein Land der Extreme – enorm reich an Erdöl und zugleich wirtschaftlich, politisch, religiös und sozial so tief gespalten wie kaum ein anderer Staat auf der Welt.

Zu seinem 53. Geburtstag im April 2010 machte sich Aliko Dangote selbst ein Geschenk: Der Geschäftsmann aus Nigeria orderte beim kanadischen Flugzeughersteller Bombardier einen Langstreckenjet für 34 Millionen Euro. Zusätzlich zum Kaufpreis muss er jährlich rund 420.000 Euro für den Unterhalt des Flugzeugs hinlegen.[1] Alles Taschengeld für den Nigerianer: Sein Firmenimperium Dangote Group, das Produkte von Zucker bis Zement herstellt und in 14 afrikanischen Ländern mehr als 11.000 Mitarbeiter beschäftigt, beschert ihm jedes Jahr Einkünfte von mehr als einer Milliarde Euro.

Schon jetzt gilt Aliko Dangote dank seines Vermögens von insgesamt 8,5 Milliarden Euro als der reichste Mensch mit dunkler Hautfarbe.[2] Er ist zwar der wohlhabendste Nigerianer – aber bei weitem nicht der einzige Superreiche in dem westafrikanischen Land: Zwischen Mitte 2010 und Mitte 2011 gingen sechs neue Privatflugzeuge im Wert von 171 Millionen Euro an nigerianische Kunden. Eine unvorstellbare Summe für ein Drittel der Nigerianer: Sie sind so arm, dass sie sich nicht mal ausreichend Lebensmittel und feste Unterkünfte leisten können.

Nigeria ist ein Land der Extreme – wirtschaftlich, politisch, religiös und sozial so tief gespalten wie kaum ein anderer Staat auf der Welt. Das Land ist nach Südafrika und Ägypten die drittgrößte Volkswirtschaft des afrikanischen Kontinents. Es beherbergt eine kleine, extrem wohlhabende Oberschicht, verfügt über einen hochentwickelten Bankensektor, ist Sitz der zweitgrößten Börse Afrikas und hat als einziges afrikanisches Land Satelliten ins All schießen lassen. Zugleich aber hat weniger als die Hälfte der nigerianischen Landbevölkerung Zugang zu adäquaten Sanitäranlagen und sicherem Trinkwasser.[3] Korruption ist so weit verbreitet, dass jährlich umgerechnet drei bis sechs Milliarden Euro aus Staatskassen verschwinden.[4] Und am nigerianischen Staatsgefüge zerren gleich mehrere bewaffnete ethnisch motivierte Konflikte. Das alles macht Nigeria, 50 Jahre nach seiner Unabhängigkeit, zu einem Riesen auf tönernen Füßen.

Mehr als jeder sechste Afrikaner ist Nigerianer: Fast 160 Millionen Einwohner, also rund doppelt so viele wie in Deutschland, machen das Land zum bevölkerungsreichsten Afrikas.[5] Jeder zweite von ihnen lebt in Städten, wo sich häufig ein kulturell buntes Gemisch von Menschen findet.[6] Denn Nigeria beherbergt die meisten Sprachen und Ethnien aller afrikanischen Nationen: Schätzungsweise mehr als 250 Völker leben auf einer Fläche, die größer ist als die von Deutschland und Frankreich zusammen. Die Bevölkerungsdichte ist dabei so hoch wie die in Westeuropa. Zugleich ist Nigeria der größte Staat der Welt, in dem sich die Bevölkerung zu ungefähr gleichen Teilen in Christen und Moslems aufteilt. Das alles ergibt eine äußerst komplizierte Gemengelage – mit Potenzialen, die bislang noch ungleich größer sind als seine Leistungen, extrem dynamisch, aber auch instabil.

Wie instabil, das zeigt die nigerianische Innenpolitik, die bis vor kurzem aus nicht mehr als einer endlosen Abfolge von manipulierten Wahlen, korrupten Regierungen und Militärputschen bestand. Immerhin: Zurzeit erlebt das Land bereits die vierte Legislaturperiode ohne Militärputsch. Noch nie in seiner Geschichte war das Land über einen so langen Zeitraum so friedlich. Und die Wahl des aktuellen Präsidenten Goodluck Jonathan im Jahr 2011 wird als die fairste seit der Unabhängigkeit bezeichnet.

Trotz der teils schwierigen Zustände im Inneren beansprucht Nigeria außenpolitisch eine Führungsrolle in Afrika.[7] So ist das Land Gründungsmitglied und wichtiger Teil der Afrikanischen Union. Die nigerianische Hauptstadt Abuja ist Sitz der westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS und der afrikanischen Zentralbank. Das Land verfügt als einziges in Westafrika über die militärischen und finanziellen Ressourcen, um bei Bedarf in den Nachbarstaaten intervenieren zu können. Nigeria stellt denn auch Blauhelm-Soldaten für gleich mehrere UN-Missionen. Und mit Südafrika konkurriert es sogar um einen ständigen Sitz eines afrikanischen Landes im UN-Sicherheitsrat.

Extrem abhängig von Erdöl

Die beiden Länder stehen zudem im Wettstreit um den Titel der wichtigsten Volkswirtschaft Subsahara-Afrikas. Allerdings ist Nigeria in den Sektoren Industrie und Dienstleistung kaum konkurrenzfähig. Denn im Gegensatz zu Südafrika findet sich in dem Land nur wenig produzierendes Gewerbe – Nigeria lebt fast ausschließlich vom Verkauf von Rohöl. Bereits 1956 hatte ein Konsortium das erste Öl entdeckt, 1971 wurde Nigeria Mitglied des Ölkartells Opec. Kurz darauf boomte die nigerianische Wirtschaft dank der explodierenden Marktpreise während der ersten Ölkrise 1973: Riesige Geldmengen strömten ins Land, und der vormalige Agrarstaat konnte sich binnen weniger Jahre zumindest in einigen Bereichen modernisieren.

Heute sind fast alle großen Ölunternehmen der Welt in Nigeria vertreten und fördern mit hochmodernen Anlagen auf dem Festland und vor der Küste Öl. Das Land ist der größte Erdöl- und Erdgasproduzent Afrikas und der zehntgrößte Erdölproduzent der Welt.[8] Theoretisch hat es die Kapazität, um täglich 2,9 Millionen Fass Öl zu fördern.[9] Allerdings verhindern Korruption, Missmanagement, Sabotage und mangelhafte Infrastruktur den weiteren Ausbau der Förderung – sie stagniert darum zwischen 1,7 und 2,1 Millionen Fass am Tag. Dank seiner umfangreichen Vorräte könnte Nigeria zumindest 40 weitere Jahre auf diesem Niveau Öl fördern.

Einkünfte aus dem Ölgeschäft machten 2010 96 Prozent des Exportgeschäfts Nigerias und zwei Drittel der Regierungseinnahmen aus.[10] Damit ist die Stabilität des Staates abhängig von den Weltmarktpreisen für Rohöl. Wie abhängig, lässt sich etwa daran ablesen, dass in Nigeria 1983 auf einen Einbruch der Ölpreise zunächst eine Wirtschaftskrise und schließlich ein weiterer Militärputsch folgten. So lange aber der Ölpreis steigt, klettert auch das Bruttoinlandsprodukt (BIP) verlässlich weiter in die Höhe. Zwischen 2005 und 2010 wuchs es durchschnittlich um 6,3 Prozent und lag 2010 bei umgerechnet rund 150 Milliarden Euro.[11] Die südafrikanische Volkswirtschaft ist fast doppelt so groß – obwohl dort nicht einmal ein Drittel so viele Menschen leben.

Weil ein Großteil des nigerianischen BIPs auf das Konto der Ölindustrie geht, erwirtschaften verarbeitendes Gewerbe und Dienstleistungssektor zusammen gerade mal 28 Prozent davon.[12] Das verarbeitende Gewerbe besteht aus nicht viel mehr als einigen Textilherstellern, die sich in der zweitgrößten Stadt Kano angesiedelt haben, und einer Autofabrik von Peugeot im zentral gelegenen Kaduna. Um die schwache landeseigene Industrie zu schützen und die hohen Importzölle eintreiben zu können, die vor einiger Zeit verhängt wurden, inspiziert Nigeria fast alle ankommenden Container. Da der Zoll jedoch keine ausreichende Infrastruktur dafür hat, verzögert und behindert diese Praxis stark das Importgeschäft – und damit, indem sie die Lebenshaltungskosten in die Höhe treibt, die weitere wirtschaftliche Entwicklung.

Der Dienstleistungssektor besteht überwiegend aus Banken und Immobilienunternehmen, die für 6,7 Prozent des BIPs verantwortlich sind.[13] Die Regierung hat diesen Sektor in den vergangenen Jahren aufgeräumt: Mehrere Geldhäuser mussten ihre Managementteams austauschen, einige wurden zu Fusionen gezwungen und bekamen Finanzspritzen oder wurden gleich geschlossen. Und schon 2003 gründete die Regierung die Economic and Financial Crimes Commission, die Wirtschaftsverbrechen und Korruption bekämpfen soll. Insgesamt wächst der Dienstleistungssektor – auch dank des Programms „Vision 2020“, bei dem die Regierung Geld in Nicht-Öl-Sektoren investiert, um Nigeria bis 2020 unter den Top 20 der Volkswirtschaften der Welt zu platzieren.

Größter Arbeitgeber des Landes ist nach wie vor die Landwirtschaft, wo zwei Drittel der Nigerianer arbeiten – allerdings meist mit niedriger Produktivität.[14] Die Folge: Während das Land vor 25 Jahren noch Kakao, Erdnüsse und Palmöl exportieren konnte, ist es heute sogar auf Lebensmittelimporte angewiesen. Nigeria verfügt zwar über große Gebiete fruchtbaren Landes, führt aber jährlich für rund drei Milliarden Euro Weizen ein und ist der weltgrößte Reisimporteur.[15]

Während in den meisten Branchen ineffizient gearbeitet wird, verfügt die alles beherrschende Ölindustrie als einzige über moderne Methoden und Technologien – und bietet darum nur wenige Arbeitsplätze. Dies ist der Hauptgrund dafür, dass trotz der für afrikanische Verhältnisse hohen Wirtschaftskraft fast ein Viertel aller Nigerianer offiziell arbeitslos ist.[16] Vor allem junge Menschen finden keine Jobs. Viele suchen ihr Heil im informellen Sektor, etwa als Kleinstunternehmer für Transporte, Handel oder Dienstleistungen. Die Regierung hat gegen die allgemeine Arbeitslosigkeit unter anderem die National Economic Empowerment and Development Strategy aufgelegt, bei der sie mit Investitionen und Privatisierungen neue Arbeitsplätze schaffen will.

Die nach wie vor große Dominanz der Ölindustrie zeigt sich auch bei den Einkommen. Zwar sind die durchschnittlichen Einkommen der Bevölkerung seit 2000 gestiegen. Trotzdem lagen sie 2009 noch immer niedriger als 1970 – zwei Drittel der Bevölkerung leben von weniger als einem Euro am Tag.[17] Kein Wunder, schließlich landen durch Korruption und Klientelwirtschaft geschätzte 80 Prozent der Einnahmen aus dem Ölgeschäft bei nur einem Prozent der Bevölkerung.[18]

Dieses eine Prozent schickt seine Kinder meist auf teure Privatschulen im Ausland. In das landeseigene Bildungssystem – ehemals eines der besten Westafrikas – wurde dagegen jahrelang nichts investiert. Schulgebäude verfallen, Lehrer sind unterbezahlt, Lehrpläne veraltet. Und die öffentlichen Universitäten werden teilweise beherrscht von kriminellen Burschenschaften.[19] Allerdings haben 13 Prozent aller Nigerianer einen Hochschulabschluss. Das ist der zweithöchste Wert nach Ägypten – und gibt Hoffnung für die Zukunft des Landes.

Arbeitslosigkeit und Bildungsmisere werden zurzeit noch verschärft durch ein rasantes Bevölkerungswachstum: Nigeria hat eine der höchsten Fruchtbarkeitsraten der Welt, im Mittel bekommt eine Frau 5,7 Kinder.[20] Seit 1971 hat sich die Bevölkerung verdreifacht, noch 2010 wuchs sie um 2,5 Prozent.[21] Bis 2050 soll die Bevölkerung von heute fast 160 Millionen Menschen auf dann 430 Millionen zulegen. Im Jahr 2100 wäre Nigeria Langfristprognosen der Vereinten Nationen zufolge mit 730 Millionen Menschen das Land mit der drittgrößten Bevölkerung der Welt.

Schon heute macht sich das enorme Wachstum durch starke Umweltverschmutzung in vielen Regionen bemerkbar, durch Müll und Abwässer, unkontrollierte Siedlungen und Ackerflächen. Der nationale Waldbestand hat sich seit 1990 ungefähr halbiert.[22] Die wachsende Bevölkerung findet keine angemessene medizinische Versorgung vor, da das Gesundheitssystem so marode ist wie das Bildungssystem. So gehört Nigeria bei der Versorgung mit Ärzten und Krankenhausbetten, allem Ölreichtum zum Trotz, zu den schlechtesten Ländern der Welt. Auch deshalb liegt die durchschnittliche Lebenserwartung für Männer bei gerade mal 51,7 Jahren – das sind rund zwei Jahre weniger als im westafrikanischen Mittel und 20 Jahre weniger als in Ägypten.[23]

Drei Landesteile, drei große Ethnien

Der Vielvölkerstaat Nigeria wird dominiert von drei Mehrheitsethnien. Ihre Siedlungsräume entsprechen ungefähr den drei Teilen, in die der Niger und sein Zufluss Benue das Land in Form eines Y zerschneiden. So überwiegen im Norden die Hausa-Fulani, die nach Schätzungen fast ein Drittel der Bevölkerung ausmachen.[24] Im Südosten siedeln die Igbo und im Südwesten die Yoruba, denen jeweils rund 20 Prozent der Einwohner angehören. Dazu kommen in der Landesmitte sowie im Delta des Niger-Flusses zahlreiche Minderheitsvölker, zu denen zusammen rund ein Drittel der Bevölkerung gehört.

Ungefähr in der geografischen Mitte des Landes, etwas nördlich vom Zusammenfluss von Niger und Benue, wurde in den achtziger Jahren mit den enormen Einnahmen aus dem Ölgeschäft die neue Hauptstadt Abuja errichtet. Die Lage in der Landesmitte soll Neutralität im Vielvölkerstaat signalisieren. Abuja boomt, seine Bevölkerungszahl wächst beständig. Die modern strukturierte Stadt war auch als besser organisierte Alternative zur chaotischen alten Hauptstadt Lagos im dicht besiedelten Südwesten des Landes gedacht.

Hier befindet sich jedoch nach wie vor das eigentliche Zentrum Nigerias. So sitzen in Lagos alle großen Banken und Unternehmen. Die Stadt spiegelt dabei die Spaltung wider: Während sich im Stadtzentrum glitzernde Bankenhochhäuser und die Wohnviertel für die neue Oberklasse aneinanderreihen, erstrecken sich daneben endlose Elendsquartiere. Zwei von drei Bewohnern von Lagos leben in Slums ohne Zugang zu Trinkwasser, Müllentsorgung oder Elektrizität.[25]

Und die Stadt wächst unaufhörlich weiter. Offiziell wohnen sieben Millionen Menschen im eigentlichen Stadtraum, mit Umland dürften es fast doppelt so viele sein. Damit ist Lagos schon jetzt die zweitgrößte afrikanische Stadt nach Kairo. Bis 2015 soll die Bevölkerungszahl sogar auf 25 Millionen Menschen anwachsen.[26] Dann wäre Lagos die drittgrößte Stadt der Welt – allerdings in dieser Größenordnung jene mit der schlechtesten Infrastruktur. Sie frisst sich ungebremst und unkontrolliert ins Umland, nicht mal jedes dritte Haus hat eine Baugenehmigung.[27] Zugleich gehört Lagos zusammen mit Abuja wegen der preistreibenden Öleinnahmen zu den Orten mit den höchsten Lebenshaltungskosten der Welt. So werden denn in Lagos fortlaufend neue Luxuswohnviertel, Einkaufszentren und Bürokomplexe aus dem Boden gestampft – die Baubranche boomt.

In krassem Kontrast dazu steht der Norden des Landes, der überwiegend muslimisch geprägt ist. Zwar finden sich hier auch die Metropole Kano, die mit fast vier Millionen Einwohnern die zweitgrößte Stadt des Landes ist, sowie einige mittelgroße Städte. In weiten Teilen ist der nigerianische Norden, der zur trockenen Sahelzone gehört, jedoch vergleichsweise dünn besiedelt. Die Einwohner dieser Region sind unterdurchschnittlich gebildet und wenig wohlhabend. So gelten etwa im nordwestlichen Bundesstaat Sokoto 86 Prozent der Einwohner als sehr arm.[28] Zum Vergleich: Im Südwesten, in der Region um Lagos, liegt der Anteil der sehr Armen nur bei 59 Prozent. Weil hohe Armut und niedrige Bildung häufig hohe Kinderzahlen nach sich ziehen, spiegelt sich der unterschiedliche Wohlstand der Landesteile in den Geburtenraten wider: Während diese im vergleichsweise wohlhabenden Süden noch moderat sind, liegen sie im Norden außergewöhnlich hoch.

In dem Umfeld von Bildungsarmut, hohem Bevölkerungswachstum und finanzieller Armut ist in den nördlichen Bundesstaaten vor ungefähr zehn Jahren die radikalislamische Gruppe Boko Haram entstanden. Der Name lässt sich mit „Westliche Bildung ist Sünde“ übersetzen. Die Mitglieder waren bereits in zahlreiche Gefechte mit Sicherheitskräften sowie mehrere Anschläge im Norden verwickelt. Ihre Schlagkraft bewiesen die Militanten 2011 mit einem Selbstmord-Bombenanschlag auf das UN-Gebäude im zentralen Abuja. Zurzeit diskutieren Beobachter noch, ob sich Boko Haram zu einem nigerianischen Arm von Al Kaida entwickeln und international aktiv werden könnte. Oder ob die Gruppe nur für eine gerechtere Behandlung des verarmten Nordens durch den Zentralstaat kämpft – und darum vor allem einen innenpolitisches Problem bleiben wird. In jedem Fall könnte sie sich bald als ernsthafte Bedrohung der inneren Sicherheit Nigerias erweisen.[29]

Eine ganz andere Bedrohung lauert in dem 70.000 Quadratkilometer großen Delta des Niger-Flusses. Es ist das größte Feuchtgebiet Afrikas – und das ökonomische Herz Nigerias. Denn in dem dicht bevölkerten Delta und seinen Küstengewässern wird fast das gesamte nigerianische Erdöl gefördert. Zwar verfügt das Land nicht nur über Ölvorkommen, sondern auch über die siebtgrößten Vorräte an Erdgas weltweit. Im Nigerdelta werden jedoch bislang die riesigen Gasvolumina, die als Nebenprodukt der Ölförderung auftreten, meist in gigantischen Feuersäulen abgefackelt. Die Verarbeitung wäre technisch zu kompliziert. Das belastet die Umwelt.

Zudem ist das ökologisch hochsensible Delta durch zahllose Öllecks an tausenden Kilometern von Pipelines inzwischen schwer in Mitleidenschaft gezogen. Die Lecks entstehen durch Sabotage, marode Infrastruktur oder weil die Leitungen für Diebstähle angezapft werden.[30] So nehmen Ölteppiche vielen örtlichen Subsistenzfarmern und Fischern die Lebengrundlage – und verschärfen damit die Spannungen zwischen den zahlreichen Ethnien, die im Delta leben und ohnehin unter Armut leiden. Als Reaktion darauf sind im Niger-Delta inzwischen zahlreiche Rebellengruppen und Sezessionsbewegungen wie etwa das Movement for the Emancipation of the Niger Delta (Mend) entstanden.

Infrastruktur bremst Wirtschaft

Die Infrastruktur ist nicht nur im Niger-Delta marode. Im ganzen Land sind Verkehrswege oder Leitungen für Strom und Wasser in schlechtem oder sehr schlechtem Zustand. Vor allem die Stromversorgung bereitet dem Staat und seiner Wirtschaft schwere Probleme. Kraftwerke liefern in dem Land des Energiereichtums nicht mehr als sechs Gigawatt Leistung. Zum Vergleich: Deutschland kommt auf die 25-fache Menge.[31] Die Folge der Stromkrise: Selbst in der Hauptstadt Abuja und in der Megametropole Lagos fällt beinahe täglich mehrere Stunden am Tag der Strom aus.

Wie alle Privatleute, die es sich leisten können, haben sich fast zwei Drittel aller Unternehmen in Nigeria deshalb eigene Stromgeneratoren besorgt, die sie zu hohen Kosten mit Benzin oder Diesel betreiben müssen.[32] Auf die staatlich geführten Stromversorger ist wenig Verlass: Sie brauchen zum Legen eines einfachen Stromanschlusses 260 Tage – weit mehr als der Durchschnitt Subsahara-Afrikas von immer noch 137 Tagen.[33] Selbst nach vorsichtigen Schätzungen senkt die marode Stromversorgung das Bruttoinlandsprodukt um 3,7 Prozent.[34]

Aber auch die anderen Infrastrukturprobleme sorgen dafür, dass Nigeria sein Potenzial noch nicht ausschöpfen kann, und treiben Produktionskosten in die Höhe. So verhindert der schlechte Zustand der Straßen, dass landwirtschaftliche Produkte gehandelt werden und sich dadurch die Nahrungsversorgung verbessert.[35] Und der Bahnverkehr für Menschen und Waren ist in den vergangenen Jahrzehnten quasi zusammengebrochen: Transportierten Güterzüge 1960 noch drei Millionen Tonnen jährlich, waren es 2005 nur noch 15.000.[36] Im selben Zeitraum sackte die Passagierzahl von drei Millionen pro Jahr auf 500.000 ab.

Das Regierungsprogramm „Vision 2020“ sieht denn auch vor, dass ein größerer Anteil der staatlichen Ölmilliarden künftig für Infrastrukturstrukturmaßnahmen verwendet werden soll. So fließen etwa Rücklagen von dem Ölkonto Excess Crude Account für den Bau von Straßen, Krankenhäusern oder Schulen ins Niger-Delta. Insgesamt soll das Investitionsprogramm nicht nur Unternehmen aus dem Ausland anlocken, sondern auch der Binnenwirtschaft und dem Arbeitsmarkt Flügel verleihen. Um die Infrastruktur zu modernisieren, müsste die Regierung in den kommenden zehn Jahren allerdings mehr als zehn Milliarden Euro in die Hand nehmen – jährlich.[37] Zudem könnte der Staat jedes Jahr fast zwei Milliarden Euro sparen, würde er Schienen, Stromnetze, Wasserversorgung und andere Infrastrukturen effizienter managen.

Protest für Subventionen

Weitere vermeidbare Kosten laufen für Nigeria auf, weil es nicht über nennenswerte Raffineriekapazitäten für sein Erdöl verfügt. Die wenigen existierenden Raffinieren arbeiten meist nur mit einem Bruchteil ihrer Leistung.[38] Immerhin hat China inzwischen damit begonnen, die Marktlücke zu schließen und in Nigeria eine moderne Raffiniere zu errichten. Bislang jedoch muss das Ölland für viel Geld drei Viertel seines Kraftstoffbedarfs im Ausland decken. Für noch mehr Geld subventioniert der Staat zudem den Kraftstoff, damit ihn sich die Bevölkerung leisten kann.

Als Nigerias Präsident Goodluck Jonathan Anfang 2012 diese Subventionen, die den Staat jährlich mehr als acht Milliarden Euro kosten, kurzerhand strich, sorgte dies für Streiks und Demonstrationen. Vor allem junge Menschen organisierten sich – unter dem Namen „Occupy Nigeria“ – über soziale Netzwerke und Mobiltelefone. Ein effizientes Mittel in Nigeria, schließlich ist das Land der größte Mobiltelefonmarkt Afrikas mit 90 Millionen Handyanschlüssen.[39] Die Bewegung hat schließlich ihren Willen bekommen: Der Präsident knickte ein und ließ die Subventionen für den Treibstoff zumindest teilweise wieder fließen.

Nicht nur Wohlhabende, die sich ein Auto leisten können, hatten sich an den Protesten beteiligt sondern auch Taxi- und Minibusfahrer, die auf subventionierten Sprit angewiesen sind. Diese Nigerianer sehen in den Subventionen die einzige Möglichkeit, um am Ölreichtum ihres Landes teilzuhaben. Doch trotz Problemen wie dieser bleibt Nigerias Bevölkerung außerordentlich optimistisch: 80 Prozent der Einwohner gehen einer Umfrage zufolge davon aus, dass es ihnen in Zukunft ökonomisch besser gehen wird – das ist der höchste Anteil unter allen 50 befragten Ländern weltweit.[40]


[1] Abiyoe, Oyetunji (2011): Nigerians acquire N33.75bn private jets in one year. In: Punch Online, http://odili.net/news/source/2011/may/16/817.html (abgerufen am 19.03.2012).

[2] N.N. (2012): Profil von Aliko Dangote, Forbes Magazine, www.forbes.com/profile/aliko-dangote (abgerufen am 19.03.2012).

[3] Library of Congress – Federal Research Division (2008): Country Profile Nigeria. http://lcweb2.loc.gov/frd/cs/profiles/Nigeria.pdf (abgerufen am 19.03.2012)

[4] N.N. (2011): Corruption in Nigeria: Dragon-slayers wanted. In: The Economist. 03.12.2011.

[5] Internationaler Währungsfonds,. http://www.imf.org/external/pubs/ft/weo/2011/02/weodata/weorept.aspx?sy=2009&ey=2016&scsm=1&ssd=1&sort=country&ds=.&br=1&pr1.x=50&pr1.y=13&c=694&s=NGDPD%2CNGDPDPC%2CPPPGDP%2CPPPPC%2CLP&grp=0&a=.(abgerufen am 19.03.2012).

[6] CIA World Fact Book – Nigeria. https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/ni.html

(abgerufen am 19.03.2012).

[7] Bergstresser, Heinrich (2010): Nigeria – Macht und Ohnmacht am Golf von Guinea. Frankfurt am Main.

[8] U.S. Energy Information Administration: Top World Oil Producers 2010, http://205.254.135.7/countries/ (abgerufen am 19.03.2012).

[9] U.S. Energy Information Administration: Country Analysis Brief Nigeria. http://205.254.135.7/countries/cab.cfm?fips=NI (abgerufen am 19.03.2012).

[10] African Economic Outlook (2011): Nigeria. http://www.africaneconomicoutlook.org/en/countries/west-africa/nigeria/ (abgerufen am 19.03.2012).

[11] World Bank (2011): Nigeria: Country Brief. http://go.worldbank.org/FIIOT240K0 (abgerufen am 19.03.2012).

[12] African Economic Outlook (2011): Nigeria. http://www.africaneconomicoutlook.org/en/countries/west-africa/nigeria/ (abgerufen am 19.03.2012).

[13] African Economic Outlook (2011): Nigeria. http://www.africaneconomicoutlook.org/en/countries/west-africa/nigeria/ (abgerufen am 19.03.2012).

[14] Izuchukwu, Oji-Okoro:Analysis of the Contribution of Agricultural Sector on the Nigerian Economic Development. In: World Review of Business Research Vol. 1. No. 1. März 2011.

[15] Mark, Monica (2011): Nigeria’s Cassava Conundrum. In: The Guardian Povertymatters Blog, 19.12.2011. http://www.guardian.co.uk/global-development/poverty-matters/2011/dec/19/nigeria-cassava-conundrum (abgerufen am 19.03.2012).

[16] Shobiye, Ahmed (2011): Unemployment rate in Nigeria hits 23.9 per cent. In: The Nation, 15.11.2011.

[17] Kappel, Robert (2010): Nigeria: Die Instabilität wächst. In GIGA Focus Nr. 2/2010. German Institute of Global and Area Studies.

[18] Library of Congress – Federal Research Division (2008): Country Profile Nigeria. http://lcweb2.loc.gov/frd/cs/profiles/Nigeria.pdf (abgerufen am 19.03.2012)

[19] Vgl. N.N.: Cults of violence – How student fraternities turned into powerful and well-armed gangs, In: The Economist, 31.07.2008.

[20] United Nations (2010): World Population Prospects, the 2010 Revision. http://esa.un.org/unpd/wpp/Sorting-Tables/tab-sorting_fertility.htm (abgerufen am 19.03.2012).

[21] World Bank (2011): Nigeria: Country Brief. http://go.worldbank.org/FIIOT240K0 (abgerufen am 19.03.2012).

[22] Library of Congress – Federal Research Division (2008): Country Profile Nigeria. http://lcweb2.loc.gov/frd/cs/profiles/Nigeria.pdf (abgerufen am 19.03.2012)

[23]United Nations (2010): World Population Prospects, the 2010 Revision. http://esa.un.org/unpd/wpp/Sorting-Tables/tab-sorting_mortality.htm (abgerufen am 19.03.2012).

[24] CIA World Fact Book – Nigeria. https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/ni.html

(abgerufen am 19.03.2012).

[25] Irin Africa (2006): Lagos, the mega-city of slums. http://www.irinnews.org/Report/60811/NIGERIA-Lagos-the-mega-city-of-slums(abgerufen am 19.03.2012).

[26] Irin Africa (2006): Lagos, the mega-city of slums. http://www.irinnews.org/Report/60811/NIGERIA-Lagos-the-mega-city-of-slums(abgerufen am 19.03.2012).

[27] Irin Africa (2006): Lagos, the mega-city of slums. http://www.irinnews.org/Report/60811/NIGERIA-Lagos-the-mega-city-of-slums(abgerufen am 19.03.2012).

[28] National Bureau of Statistics (2012): Nigeria Poverty Profile 2010, www.nigerianstat.gov.ng/uploads/latestRelease/4c6807f6bf92fb3f71084f3a48964c305c68ccad.pdf (abgerufen am 19.03.2012).

[29] Vgl. Adesoji, Abimbola (2010): The Boko Haram Uprising and Islamic Revivalism in Nigeria. In: Africa Spectrum 2/2010. GIGA German Institute of Global and Area Studies, Institute of African Affairs.

[30] U.S. Energy Information Administration: Country Analysis Brief Nigeria. http://205.254.135.7/countries/cab.cfm?fips=NI (abgerufen am 19.03.2012).

[31] U.S. Energy Information Administration: Country Analysis Brief Nigeria. http://205.254.135.7/countries/country-data.cfm?fips=NI (abgerufen am 19.03.2012).

[32] Pushak, Nataliya (2011): Nigeria’s Infrastructure – A Continental Perspective. Bank Policy Research Paper. The World Bank. Juni 2011.

[33] World Bank: Ease doing Business in Nigeria – Getting Electricity. http://www.doingbusiness.org/data/exploreeconomies/nigeria/#getting-electricity (abgerufen am 19.03.2012).

[34] Pushak, Nataliya (2011): Nigeria’s Infrastructure – A Continental Perspective. Bank Policy Research Paper. The World Bank. Juni 2011.

[35] Pushak, Nataliya (2011): Nigeria’s Infrastructure – A Continental Perspective. Bank Policy Research Paper. The World Bank. Juni 2011.

[36] Pushak, Nataliya (2011): Nigeria’s Infrastructure – A Continental Perspective. Bank Policy Research Paper. The World Bank. Juni 2011.

[37] Pushak, Nataliya (2011): Nigeria’s Infrastructure – A Continental Perspective. Bank Policy Research Paper. The World Bank. Juni 2011.

[38] U.S. Energy Information Administration: Country Analysis Brief Nigeria. http://205.254.135.7/countries/country-data.cfm?fips=NI (abgerufen am 19.03.2012).

[39] Germany Trade & Invest (2011): ICT-Branche treibt Afrikas Wachstum.

[40] Gallup International (2012): Global Barometer of Hope and Despair for 2012.