Mach bitte das Licht aus

Dummy Magazin

Vom schlaflosen Fest­ hängen zwischen den Zuständen: ein spätes Gespräch mit der Kul­ turwissenschaftlerin Elisabeth bronfen über Nachtmahre, bar Flys – und den Morgen danach.

DUMMY: Frau Bronfen, in der griechischen Mythologie hält die Göttin der Nacht, Nyx, meist zwei Kinder in den Armen: den properen Schlaf und den bleichen Tod. Heißt: Nach Sonnenuntergang wartet wohlverdiente Ruhe, es beginnt aber auch die Zeit zum Sterben. Fanden die alten Griechen ihre Nächte so zwiespältig?

Elisabeth Bronfen: Die Nacht hatte für die Menschen schon immer viele Gesichter. Die griechische Nyx ist eine mütterliche Figur, die als eine der ersten Göttinnen aus dem Chaos entsteht und dann in diesem Nichts ein Etwas erschafft – ihre Kinder. Ab 1800, also rund 2.500 Jahre später, wird sie in der Romantik auf einmal unheimlich wichtig, man verehrt sie sehr. Und da kommen dann zusammen mit dem Tod und dem Schlaf auch noch die Fantasien ins Spiel, die sie nun ebenfalls angeblich gebärt.

Andere Autoren haben ihr weiteren Nachwuchs angedichtet, etwa Zuneigung, aber auch Sorgen, Rache und Verderben. Ziemlich unterschiedliche Kinder.

Die Nacht ist die Mutter, die all diese menschlichen Emotionen auf die Welt bringt. Sie ist in sich sehr vielfältig, die Zeit der Ruhe, aber auch der Ekstase und der Gewalt. Und: Sie galt und gilt als weiblich.

Ist der Tag dann das Gegenstück dazu, also männlich, und damit angeblich vernünftig und kontrolliert?

So simpel ist es nicht, Tag ist nicht einfach Vernunft, Nacht ist Irrsinn. Es ist nicht so, dass man nachts ausleben kann, was tagsüber verboten ist. Beide, Tag und Nacht, bedingen einander und sind untrennbar miteinander verbunden. Nachts werden auch die Weichen dafür gestellt, wie der nächste Tag sein wird. Da trifft man Entscheidungen, es gibt Erkenntnisse und neue Einsichten. Aber auf jeden Fall ist die Nacht schillernder als der Tag. Er hat nicht diese metaphorische Qualität, er ist nur die Zeit der Arbeit und des Alltags. Das zeigt sich etwa daran, dass wir Zeit in Tagen zählen. Nur Kinder denken in Nächten, sie sagen: „Nur noch zwei Mal schlafen.“ Für Erwachsene dagegen ist der Tag zwar bedeutsamer, aber auch gewöhnlicher. Und die Nacht ist das Besondere, die Ausschweifung, das Andere, ein Zufluchtsort für Libertins und Dissidenten. Gerade für Künstler ist sie eine Zeit von großer Kreativität – die aber dann auch wieder in den Tag einfließt. Mancher malt und schreibt dann tagsüber, was ihm nachts so in den Sinn gekommen ist.

Wieso sind so viele Menschen nachts kreativer als tagsüber?

Kreativität und Schlaflosigkeit sind sich nah. Die Menschen, die gern nachts arbeiten, haben das Gefühl, sie sind wach, während die anderen schlafen. Das heißt nicht nur, dass sie nicht abgelenkt werden, sie sind auch wie abgekoppelt, verlassen, ganz auf sich bezogen. Das ergibt existenzielles Gefühl, eine andere Form von Wahrnehmung.

Und nachts erscheint die Welt dann wandelbarer – auch weil sich Konturen auflösen?

Selbst wenn die Nacht beleuchtet ist, sieht man nicht so genau wie am Tag. Shakespeare schreibt, nachts könne man alle möglichen Dinge für etwas anderes halten, als sie sind. Da können sich Gestalten wandeln. Ein schönes Beispiel dafür sind die Licht- und Schattenspiele im Film noir, wo vieles und viele nicht das sind, was sie zu sein scheinen.

Ist das der Grund, warum Feste, Konzerte oder Theateraufführungen nachts stattfinden und warum man nachts in die Disco geht? Weil man die anderen Menschen nicht so gut sieht und darum viel in sie hineinfantasieren kann?

Auch. Aber es liegt auch ganz banal daran, dass man tagsüber arbeitet und nur nachts Zeit hat für solche Aktivitäten. Aber eben darum kann man nachts überhaupt anders sein kann als im täglichen Geschäft. Tagsüber muss man vernünftig sein, hat Verantwortung, Verabredungen, Pläne. Nachts lässt es sich in andere Rollen schlüpfen.

Um noch mal auf die Schlaflosigkeit zurückzukommen: Man ist schlaflos ja nicht nur kreativ – nächtliches Denken schlägt auch schnell in Pessimismus und Grübelei um. Gewichtungen und Perspektiven geraten durcheinander, eigentlich Unwichtiges erscheint plötzlich übermächtig. Woher kommt das?

Weil man schlaflos zwischen den Zuständen festhängt. Man ist mit seinen Gedanken und leiblichen Erfahrungen allein, einerseits abgeschnitten vom Bewusstsein des Tages, andererseits aber auch ohne die Option, Geschehenes im Schutz des Traums durchzuarbeiten. So begegnet man den Eindrücken und Erinnerungen, die tagsüber vergessen oder verdrängt sind und nachts nach oben steigen. Und das kann qualvoll oder lustvoll sein.

Wenn man sich das vor Augen führt, ist es naheliegend, dass die Nacht als Chiffre in menschlichen Kulturen meist mehr war als nur eine Zeit ohne Licht. In der Urzeit ist sie noch einfach dunkel und gefährlich, es lauern wilde Tiere. In der Antike spricht man ihr immerhin schon schöpferische Kraft zu. Wie sieht es im christlichen Mittelalter aus?

Im Mittelalter heißt es, die Macht des Bösen sei in der Nacht am größten. Sie ist die Zeit Luzifers, des gefallenen, ursprünglich lichtbringenden Engels. Aber die Nacht im Christentum ist auch die Zeit der Erleuchtung, der Offenbarungen. Christus ist ja eigentlich eine Nachtgestalt, nachts geboren, was wir als Weihnacht heute noch feiern, und er bringt Licht in die Dunkelheit. Mit dem Umbruch in die frühe Neuzeit und dem Beginn der Renaissance im 15. und 16. Jahrhundert erfährt die Nacht dann zum ersten Mal besondere Wertschätzung.

Warum?

Ich würde die These aufstellen, dass es damit zu tun hat, welchen gesellschaftlichen Status das Subjekt zu dieser Zeit hat, der einzelne Mensch. Es gibt noch die hierarchische Ordnung des Mittelalters, in der jeder Mensch seinen Platz hat, aber nun können sich die Menschen immerhin schon dagegen wehren. Darum beschäftigen sie sich jetzt auch mit ihren Fantasien, Träumen und Wünschen. Und all das findet seinen Ort in der Nacht. Die Renaissancemalerei interessiert sich dann vor allem für die Nacht, weil diese ihr erlaubt, Licht zu malen, verschiedene Arten von Licht. Die Nacht dient vor allem als Kontrastmittel.

Die Aufklärung ab circa 1700 sieht in der Nacht dann vor allem Hexen, Werwölfe und Nachtmahre lauern. Ist sie für grundvernünftige Denker wie Leibniz, Lessing oder Kant nur das Dunkle, das es auszuleuchten gilt?

Nein, die Aufklärung denkt immer auch die Nacht mit. Bereits Descartes zum Beispiel begibt sich bei seinen radikalen Zweifeln quasi in die Nacht – um dann aber mit neu gewonnener Sicherheit daraus zurückzukehren. Und auch Leibniz stellt sich immer auch das vor, was er nicht begreifen kann. Um überhaupt aufklären zu können, braucht man Dunkelheit, die noch nicht ausgeleuchtet ist. Aber richtig groß wird die Nacht als Thema für die Philosophie, die Malerei, die Literatur erst Ende des 18. Jahrhunderts mit der Romantik, als magisches und mythisches Denken ein Revival erfahren.

Diese Epoche wird oft auch als eine Art Rückschlag nach der Aufklärung aufgefasst – so als hätten die hellen Scheinwerfer der Vernunft Monster geweckt, von Dracula bis Frankenstein, die plötzlich alle in der Literatur auftauchen.

Für Tote, Geister und Gespenster hat man sich auch früher schon interessiert, es gab Friedhofsgedichte und Schauergeschichten. Aber in der Romantik wird tatsächlich erstmals die starke Opposition zwischen Tag und Nacht festgeschrieben. Die Nacht rückt an den Rand des Alltäglichen – und wird damit aber ganz besonders spannend. Und ab 1880 ungefähr ist die Nacht dann konstant interessant für die Kultur, bis heute.

Welche Rolle spielt dabei die künstliche Beleuchtung, die zu exakt dieser Zeit in den Städten aufkommt? Plötzlich erhellen Straßenlaternen die Dunkelheit, sie sollen auch Verbrecher und damit das Böse fernhalten wie früher Bannflüche oder Abendgebete.

Im Mittelalter ist die Welt nach Sonnenuntergang noch wirklich dunkel und gefährlich, da kann man nicht viel unternehmen. Es gibt zwar Kerzen, die großen Theaterspektakel des Barocks etwa leben auch von deren Licht. Aber in dem Moment, wo man ganze Straßen ausleuchten kann, kann man tatsächlich die Nacht zum Tag machen und viel länger viel mehr unternehmen. Mit der elektrischen Beleuchtung lässt sich die Nacht erschließen, okkupieren und beherrschen.

In diesem Licht taucht irgendwann auch der Nachtschwärmer auf, der sich losgelöst von Verpflichtungen und bürgerlichen Normen durch die nächtliche Stadt treiben lässt. Ist er die absolute Verkörperung des individuellen Menschen, der nur seinen eigenen Weg geht?

Auf jeden Fall sind all die Flaneure, Bar Flys und Nachteulen Figuren, die mit der modernen radikalen Subjektivität aufkommen. Sie existieren außerhalb der regulierten Zeit, probieren Sachen aus, es kann auch mal riskant werden, alles ist möglich, jederzeit.

Heute scheinen Menschen weniger schlafen zu müssen als früher, oder sie behaupten es zumindest, und stattdessen feiern sie nächtelang in Clubs oder arbeiten die Nächte durch, anstatt zu ruhen. Geht uns die Nacht verloren?

Man könnte das Internet als unsere heutige Nacht verstehen, mit all der Andersartigkeit und all den Ambivalenzen, die man früher der Nacht zugeschrieben hat. Natürlich, Tag und Nacht sind nicht mehr so radikal unterschieden, man kann heute sehr vieles auch nachts machen, was früher nur tagsüber möglich war, arbeiten, einkaufen, reisen. Aber Nachtarbeit ist nach wie vor nicht dasselbe wie Tagarbeit. Und die Menschen schlafen und träumen ja nach wie vor.

Ihre Forschungen zur Nacht haben auch einen politischen Subtext. Sie haben mal gesagt: „Der Wunsch, jemanden oder etwas in eine ewige Nacht zu verbannen, ist der Wunsch, etwas auszuschließen, das nicht ins System passt. Aber wir können das Nächtliche, die Überschreitung, nie ganz ausschalten, weil uns das zum Menschen macht. Und wenn man das berücksichtigt, gibt es keine schnellen Lösungen mehr.“

Das ist mir sehr wichtig. Die Nacht ist auch politisch, und zwar nicht nur als Zeitraum, in dem politische Ereignisse stattfinden, also etwa Entscheidungen getroffen oder Verschwörungen verabredet werden. Sondern auch als Chiffre für alles, was nicht in unsere Tages-Kultur passt – und was dann nach Meinung mancher ausgestoßen und verdrängt gehört. Aber das eine enthält immer auch das andere in sich, und das, was man ausgrenzen will, ist Teil von einem selber.

Nun waren wir lange in der Nacht. Aber irgendwann ist die vorbei – der Morgen begrenzt von vornherein alle Gruseleien und Grenzüberschreitungen. Wie wichtig sind der Sonnenaufgang, das Aufwachen?

Nur wer aus der Nacht auch wieder heraustritt, kann die Erkenntnisse, die er oder sie dort gewonnen hat, in praktische Entscheidungen umsetzen. Und es gibt eine ethische Verantwortung dafür, daraus Konsequenzen zu ziehen. Darum finde ich es nicht spannend, in die Nacht zu gehen, sich dort radikal zu verlieren und dabei dann gewissermaßen den Tod zu finden. Sondern es ist wichtig, auch wieder mit Erfahrungen und Entdeckungen zurückzukehren, um die Welt, den Tag etwas besser zu machen. Denn der nächste Tag kommt unweigerlich.

In ihrer umfangreichen Kulturgeschichte „Tiefer als der Tag gedacht“ untersucht die Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen, wie sich seit Jahrtausenden die Nacht als Chiffre in Mythen und Gemälden, Büchern, Opern oder Kinofilmen spiegelt.

Elisabeth Bronfen: „Tiefer als der Tag gedacht – Eine Kulturgeschichte der Nacht“. Carl Hanser Verlag, 640 Seiten, 29,90 Euro