Wenn Henny Kuchenbecker und ihr Mann Hanno aus dem Küchenfenster ihres Hauses am Dorfrand blicken, dann sehen sie: den Garten, die Hecke, die Landesstraße 8, die sich in einer Rechtskurve zwischen Birken über einen Acker schwingt und hinten im Wald verschwindet. Interessanter ist allerdings, was die Kuchenbeckers aus ihrem Küchenfenster nicht sehen können, weil es tief unter der Straße und dem Acker im Boden verborgen liegt: ein riesiger Salzstock, mehrere Kilometer breit und lang, er reicht bis zum nächsten Ort. „Wir wissen, dass er da ist“, sagt Henny Kuchenbecker.
Wegen dieses Salzstocks schlagen die Wellen gerade hoch im Dörfchen Waddekath, 142 Einwohner, 52 Häuser, Region Altmark, nordwestlichstes Sachsen-Anhalt. Gerüchte machen die Runde, Fernsehteams rücken an, viele Anwohner sind empört – und was die Endlagersuche betrifft, äußerst misstrauisch. Was ist passiert?
Seit 2017 prüft die Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE) in ganz Deutschland Standorte, deren Untergrund sich nach gesetzlich vorgeschriebenen wissenschaftlichen Kriterien als Endlager für hochradioaktiven Atommüll eignen könnte. Im Boden muss eine geologische Formation aus Ton, Salz oder Granit vorhanden sein, mindestens 300 Meter unter der Erde, mindestens 100 Meter mächtig. Nach diesen Kriterien könnte auch der Salzstock vor den Toren Waddekaths infrage kommen. Seit die Dorfbewohner davon gehört haben, hat sich Verunsicherung breitgemacht. Wie läuft diese Suche ab? Was bedeutet das für uns? Machen die da oben nicht eh, was sie wollen, und unser Dorf liegt bald direkt neben einem Endlager für hochradioaktiven Müll?
Das ganze Dorf sollte verschwinden
Die Waddekather sind sensibel, was Planungen von oben für ihr Dorf betrifft. Zur DDR-Zeit waren es vom Ortsrand gerade mal ein paar Hundert Meter bis zur Grenze nach Westdeutschland. Besucher brauchten darum spezielle Passierscheine, sie mussten sich monatelang vorher anmelden. Neuzuzüge wurden nicht erlaubt, die Einwohnerzahl schrumpfte, Häuser verfielen. „Die Regierung wollte damals das ganze Dorf am liebsten verschwinden lassen“, erinnert sich Hella Siewert, die vor 80 Jahren in Waddekath geboren wurde und immer geblieben ist.
Nach der Grenzöffnung, als auch die alten Verbindungen in die benachbarten niedersächsischen Orte wiederhergestellt waren, berappelte sich das Dorf. Ab Anfang der 1990er kehrten ehemalige Einwohner zurück, Kinder wurden geboren, es ging bergauf.
Allerdings folgte schon im Jahr 1995 der nächste Schlag: Aufgrund einer Studie der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) war Waddekath, zusammen mit ein paar anderen Namen, plötzlich doch wieder im Gespräch als Ort für ein potenzielles Atommüllendlager. Die Studie war von der damaligen Bundesumweltministerin Angela Merkel in Auftrag gegeben worden, für den Fall, dass sich der 60 Kilometer entfernte Salzstock Gorleben doch als ungeeignet erweisen sollte. Als Merkel die Studie vorstellte, war das für die Waddekather ein Schock. Sie gründeten eine Bürgerinitiative, demonstrierten an der Durchgangsstraße. Merkel indessen beteuerte gemäß der damaligen Beschlusslage, Gorleben bleibe erste Wahl. Und so kehrte in Waddekath allmählich wieder Ruhe ein – vorerst.
Über 20 Jahre später kommen wieder Gerüchte auf, und sie wirken wie Salz in alten Wunden. „Wir sind da gleich hellhörig geworden“, sagt die Ur-Waddekatherin Siewert. Es begann damit, dass im Juni 2019 ein Team des MDR ins Dorf kam, um einen Fernsehbeitrag darüber zu drehen, dass Waddekath als Standort für ein Atommüllendlager in Betracht komme. Dem vorangegangen war ein Informationsabend in der sachsen-anhaltinischen Landeshauptstadt Magdeburg zum Ablauf bei der Endlagersuche. Im Dorf fühlte man sich überrumpelt. „Das war für uns ein Weckruf, dass wir da was tun müssen“, sagt Fritz Kloß, seit 30 Jahren Bürgermeister der Gemeinde Flecken Diesdorf, zu der Waddekath gehört. Er kritisiert, dass er vorab überhaupt nicht darüber informiert worden sei, dass sein Ort unter die Lupe genommen wird.
Nicht mehr oder weniger im Fokus als andere Orte
Die Aufregung ist nachvollziehbar. Es stimmt: Möglicherweise kann der Salzstock beim Dorf als Atommüllendlager dienen. Dasselbe gilt allerdings auch für zahlreiche andere Salzstöcke in ganz Deutschland, ebenso für Ton- und Granitformationen. Aktuell steht der Waddekather Salzstock nicht mehr oder weniger im Fokus als zahlreiche andere Orte in ganz Deutschland.
Zurzeit füllt die für die Suche verantwortliche BGE eine vormals weiße Deutschlandkarte mit vielen Punkten. Jeder von ihnen steht für einen Ort, von dem bekannt ist, dass hier möglicherweise ein geeigneter Untergrund zu finden ist. Dafür wertet die BGE Unterlagen zur Bodenbeschaffenheit aus, Karten aus dem Bergbau, geologische Gutachten. Am Ende dieser ersten Phase der Endlagersuche soll es eine Liste mit Orten geben, die dann näher untersucht werden. Dieser Zwischenbericht soll planmäßig im dritten Quartal 2020 veröffentlicht werden.
In einem zweiten Schritt werden die geeignetsten Orte mit Felduntersuchungen und Probebohrungen näher erkundet. Dadurch lassen sich jene Punkte auf der Karte identifizieren, bei denen sich in einem dritten Schritt auch eine Erkundung unter Tage lohnen könnte. Und erst nach Abschluss dieser dritten Phase wird der nach wissenschaftlichen Kriterien beste Standort für ein Endlager in Deutschland identifiziert worden sein. Über ihn sollen Bundestag und Bundesrat Ende 2031 entscheiden. Frühestens 2050 könnte dann die Einlagerung beginnen. Davor steht noch ein langer Auswahlprozess – transparent für jeden Bürger, unter der kritischen Begleitung eines Nationalen Begleitgremiums, mit umfangreichen Einspruchsmöglichkeiten bis hin zum Bundesverwaltungsgericht.
Sorgen um die Region
Die Waddekather trauen diesem Prozess nicht so recht. Der deutsche Atommüll muss irgendwo eingelagert werden, das ist allen klar. „Aber wie können wir sicher sein, dass er nicht am Ende einfach bei uns abgekippt wird?“, sagt die Anwohnerin und Gemeinderätin Dorit Nieber. Sie sorgt sich, die Anliegen der Waddekather könnten in den vorgesehenen Verfahren nicht ausreichend Gehör finden. Vor allem, weil die Region, das wissen alle, eher dünn besiedelt und vergleichsweise einkommensschwach ist. „Da muss man sich nichts vormachen, da stehen wir doch in der ersten Reihe“, sagt Nieber.
Bei ihr und vielen anderen Anwohnern hat sich das Gefühl verfestigt, dass ihnen die große Politik immer wieder Steine in den Weg legt und sich nicht um ihre Bedürfnisse kümmert. Die Waddekather selbst hingegen kämpfen um ihr Dorf: haben einen Sportplatz angelegt, für gemeinsame Veranstaltungen, freuen sich, dass es in den vergangenen Jahren wieder Neubauten gab. Zwar bieten Waddekath und die angrenzenden Ortschaften nur wenige Arbeitsplätze. Aber von hier aus lässt es sich gut nach Celle, Uelzen oder Wolfsburg in Niedersachsen pendeln. Und auch die Kreisstadt Salzwedel, bekannt für ihre mittelalterliche Fachwerk-Altstadt und ihren Baumkuchen, stellt ein paar Jobs.
Große Hoffnungen liegen auf dem „Grünen Band“, einem 1.400 Kilometer langen Biotop entlang des ehemaligen Grenzstreifens, der sich von der Ostsee bis nach Bayern zieht und direkt an Waddekath entlangführt. Es soll für etwas Tourismus sorgen. „Wir haben hier so viel schöne Natur“, schwärmt Carola Fock, die vor zwölf Jahren zusammen mit ihrem Mann in Waddekaths Nachbardorf Hanum einen Bauernhof zu einer Pension für Radfahrer, Wanderer und Reiter umgebaut hat. Das wolle man sich nicht durch ein Endlager kaputt machen lassen.
„Das Schwierigste ist es, Vertrauen wiederherzustellen“
Die Waddekather bereiten sich darum jetzt schon vor. Obwohl ihnen gesagt wurde, dass es dafür noch viel zu früh ist – und dass sie gar nicht besonders im Fokus stehen. Aber hören ist das eine, glauben das andere. „Nach all dem, was in der Asse, in Gorleben und in Morsleben gelaufen ist, geben sich die Leute nicht mehr mit Halbwahrheiten und halben Informationen zufrieden“, erklärt der Anwohner Uwe Körner: „Das Schwierigste wird es sein, Vertrauen wiederherzustellen.“
Einige Dorfbewohner sitzen darum im Wohnzimmer der Ur-Waddekatherin Hella Siewert zusammen, in deren altem Familienhaus im Ortskern, schräg gegenüber der rund 1.000 Jahre alten Feldsteinkirche. Sie denken darüber nach, wieder eine Bürgerinitiative zu gründen. Andere am Tisch setzen ihre Hoffnungen darauf, dass alte Bohrlöcher den Salzstock unbrauchbar gemacht haben. In der Altmark hat die DDR einst kleine Mengen Erdgas gefördert. Manche behaupten, es habe in der Region darum sogar Erdbeben gegeben. Die Unterlagen werden zeigen, ob und wo gebohrt wurde.
Zwei Straßen weiter ringt Henny Kuchenbecker an ihrem Küchentisch die Hände. „Mit einem Atommüllendlager vor der Tür werden uns unsere Enkelkinder sicher nicht mehr besuchen kommen“, befürchtet sie. Ihr Mann Hanno blickt durchs Küchenfenster über die Gartenhecke hinweg, auf den Acker, unter dem der Salzstock liegt, und sagt: „Wir sind wachsam.“