Das Rechteck eines Türrahmens. Die gerade Linie eines Bordsteins. Der scharfe Schattenriss einer Palme. In der gleißenden Mittagshitze wirken die Straßen und Piazzas des kleinen Ortes wie ein Scherenschnitt aus schwarzen und weißen Formen. Das Auge gewöhnt sich nicht an dieses Licht. Im Sommer heizt die Sonne den Salento, den Stiefelabsatz Italiens, auf bis zu 40 Grad auf. Dann knirscht und krümelt hier jeder Stein, in den Dörfern und kleinen Städten scheinen auch die groben, alten Häuschen zu ächzen, in denen jetzt oft Ferienwohnungen installiert sind, selbst die Palazzi und sogar die Barockkirchen bröckeln. Auf den Bürgersteigen dazwischen keine Menschenseele, knisternde Stille.
Obwohl, nicht ganz. Die Fantasie spielt eine Melodie ein in diesen Fiebertraum, von irgendwo echot sie durch das Labyrinth. Sie entstammt einer Geige, und sie lockt einen um viele Straßenecken zu einem alten Häuschen, das aus früheren Zeiten in eine Gasse ragt. Die grüne Holztür ein Portal, nur angelehnt, drinnen taucht aus dem Halbdunkel der Vergangenheit ein einzelnes karges Zimmer auf, ein Bett, ein Nachttisch, ein Waschbecken, darüber ein Lichtkegel aus einem winzigen Fenster unter der Decke. Und ringsum auf Stühlen sitzen Menschen, Frauen in dunklen Kleidern, Männer in weit sitzenden schwarzen Anzügen, in ihre Gesichter haben sich Sonne und harte Arbeit eingeschrieben, die Luft ist schwer und verschwitzt.
Vor den Sitzenden spielen drei ältere Herren atemlos Geige, Akkordeon und Tamburin, der eine ist Friseur, der andere Landarbeiter, der dritte der Totengräber dieses Örtchens. Und in der Mitte des dunklen Raums tanzt eine Frau in Weiß auf einem weißen Laken zur Musik. Tanzt nicht einfach nur, sondern wirbelt wie ein kaputtes Spielzeug um die eigene Achse, reißt den Kopf von einer Seite auf die andere, fällt zu Boden, wiegt sich dort mechanisch mit umschlungenen Armen hin und her. Woraufhin die Musiker die Instrumente direkt an ihre Ohren halten, bis sie wieder aufsteht. Und weitermacht. Das Haar wirr, die Augen einer Schlafwandlerin. Es ist ein Ritual, dem die Anwesenden mit unbewegten Gesichtern folgen. So muss es gewesen sein.
Die Spinne der Entrückung
Der Salento, die gerade mal 40 Kilometer breite und 100 Kilometer lange Halbinsel mit ihren kargen Böden am südöstlichen Ende Italiens, war jahrhundertelang von Armut und Einsamkeit geprägt. Ein abgelegener Ort, an dem die alten heidnischen Götter länger als andernorts dem Christentum widerstanden. Zum Ausklang des Mittelalters sprachen jesuitische Missionare gern abfällig über das gesamte Süditalien als „italienisches Indien“, so kulturell weit entfernt vom christlichen Europa erschien es ihnen damals.Noch heute, so hört man, werden Menschen, die im Landesinneren des Salento bei Örtchen wie Nardó, Corigliano d’Otranto oder Castrignano dei Greci wandern gehen wollen, von alten Frauen im Dorfladen gewarnt – vor der Spinne der Entrückung und des Wahnsinns, die hier unter wilden Pistazien- oder Olivenbäumen lebt: der Tarantel, wissenschaftliche Bezeichnung Lycosa tarantula. Ihr Name stammt von der nahegelegenen Stadt Tarent. Wen das handtellergroße, haarige Tier beißt, so der Volksglaube, den versetzt das Gift im Körper zunächst in Apathie und Langeweile. Aus diesem Ausnahmezustand helfe nur ein komplexes Ritual, der „Tarantismo“, zu dem Musik und Tanz, aber auch farbliche Reize gehören. Die Gebissenen lösen sich dann aus ihrer Teilnahmslosigkeit und tanzen ungehemmt, stundenlang, tagelang, nächtelang, bis zum Umfallen, begleitet von obszönem Verhalten und rasenden Wutanfällen. Bis es ihnen wieder gut geht. Der Tarantismo, dieses besessene, impulsive Verhalten, das der anfänglichen Apathie des Tarantelbisses nachfolgt, hat es sogar bis in die deutsche Sprache geschafft: Man spricht davon, jemand verhalte sich „wie von der Tarantel gestochen“ – obwohl die Tarantel strenggenommen beißt und nicht sticht.
Auch in anderen Regionen Europas tanzten sich Menschen im späten Mittelalter während sogenannter „Tanzwut“-Epidemien in den Wahnsinn oder sogar bis in den Tod – die genauen Ursachen dafür sind bis heute unklar. Aber nur im Salento machte man die Tarantel als Schuldige für solche Choreomanien aus – und glaubte, die Tarantierten, wie sie genannt wurden, durch Musik heilen zu können. Und nur im Salento gerieten noch bis vor wenigen Jahrzehnten Menschen in solch unfreiwillige Entrückungen. Lange blickten die Menschen im Norden Italiens darauf herab – ein Stigma für Aberglaube und Rückständigkeit.
Lüsterne Spinnen
Im Fiebertraum aus der Vergangenheit sind die Melodien noch nicht verklungen. Als sich die Nachricht verbreitet, dass im Ort eine Frau gebissen wurde, eilen Familienmitglieder und die Nachbarschaft herbei. Aus Neugier, aus Mitgefühl, aber auch, weil dies hier Abwechslung zum tristen Alltag verspricht. Solange die Spinne lebt, kann sie Anweisungen an ihre Opfer geben, so der Glaube. Das Ziel des Rituals ist daher ihr Tod. Aber die drei Musiker müssen zunächst herausfinden, was für eine Persönlichkeit die Tarantel hat, die diese im Halbdunkel ächzend auf dem Boden liegende Frau erwischt hat. Den Tieren werden unterschiedliche Charaktereigenschaften zugeschrieben. Sie sind melancholisch oder aufbrausend, lüstern oder zornig, sie tragen oft sogar individuelle Namen wie Rosina, Peppina oder Maria Antonietta. Das alles bestimmt, auf welche Melodien und Farben die von ihnen Gebissenen reagieren.
Daher probieren die Musikanten mal diese Melodie, mal jene, einige ältere Frauen lassen unterschiedlich gefärbte Tücher durch die stickige Luft kreisen. Gemeinsam beobachten sie die Darniederliegende – wie erst ihre Finger leicht zu flattern beginnen, dann ihre Hände zucken, bald auch die Füße, kurz danach schlagen Arme und Beine rhythmisch. Schließlich erhebt sie sich zitternd. Es kann beginnen.
Die Musik, die nun erklingt, nennt sich „Pizzica“, vom italienischen „pizzicare“, für kneifen, beißen oder zwicken. Frenetische Melodiebögen, meist von Geigen, schrauben sich in die Höhe, Tamburine scheppern harte Polyrhythmen, alles wiederholt sich unerbittlich und wird zugleich immerfort schneller. Der Tanz dazu, „Tarantella“ genannt, ist ein getriebenes Wirbeln und Zucken, Hinstürzen und wieder Aufstehen, wie gesteuert von der Musik. Die Gebissene tanzt mit der Tarantel, zeitweilig wird sie auch selbst zur Tarantel und verfällt in Spinnenbewegungen. Und erst als sie es nach langen Stunden schafft, das Tier symbolisch zu zertrampeln, ist sie wieder frei. Sie kollabiert. „Fühlst du dich besser?“, fragt schließlich eine alte Frau in Schwarz, die ihr den Kopf hält. „Ja“, antwortet die Frau auf dem Boden, tonlos, verschwitzt, leer. Ringsum Raunen, Erleichterung.
Blüten eines uralten Rituals
Die Form des Rituals hat sich immer wieder gewandelt, doch im Kern muss es sich im Salento jahrhundertelang so zugetragen haben. Bereits im 11. Jahrhundert wurde erstmals beschrieben, wie in der Region Entrückte mit Musik geheilt wurden. Doch was genau löste die Besessenheitszustände aus, was sorgte dann für Heilung? Das Phänomen zog immer neue Forschende an, es entspannen sich Theorien, die immer wieder umformuliert wurden. So mutmaßte im 17. Jahrhundert Giorgio Baglivi, Mediziner, päpstlicher Arzt und Professor für Anatomie an der Sapienza Università di Roma, dass die Musik die Körpersäfte erschüttere, wobei sich das Spinnengift mit ihnen vermische und auflöse.
Im Zuge der Aufklärung und den damit aufkommenden Naturwissenschaften wurde das Phänomen dann entweder als psychisches oder als körperliches Leiden der Salentiner:innen interpretiert. Man hatte nämlich bemerkt, dass Taranteln zwar furchterregend aussehen, aber gar nicht besonders giftig sind – ihr Biss ist zwar schmerzhaft, aber meist folgenlos. Der italienische Arzt, Physiker, Geologe und Philosoph Francesco Serao behauptete daher, die Menschen in Süditalien würden unter der Sommerhitze melancholisch oder seien schlicht vom Sonnenstich umnachtet. Im 18. Jahrhundert ventilierte der Hamburger Arzt Johann August Unzer aus der Ferne die Diagnose, eine Milzerkrankung sei schuld, ausgelöst durch die lokalen Ernährungsgewohnheiten mit Hülsenfrüchten, Muscheln und zu viel Wein.
Die katholische Kirche dagegen witterte bei den zu Musik zuckenden Salentiner:innen heidnisch-orgiastische Kulte – und das zurecht, wie sich zeigen sollte. Irgendwann reichte es den Kirchenoberen: Sie setzten als Schutzheiligen der Tarantelopfer den Apostel Paulus ein, der einst auf Malta dem Biss einer giftigen Schlange getrotzt haben soll, und kaperten so quasi das Ritual. In der Kleinstadt Galatina huldigen noch heute jeden Sommer Tarantismo-Gläubige in einer winzigen Kapelle im Seitenflügel eines Barock-Palazzos dem Heiligen Paulus. Allerdings ohne Musik und Tanz, was ein kleines Schild im Kircheninneren explizit verbietet, sondern nur begleitet von Gesang und Gebeten.
Verfremdete Bedürfnisse
Jahrzehntelang hatten sich vor diesem Gotteshäuschen die Gebissenen versammelt und ihr Leiden einer Menge vorgeführt, die sich schnell teilte, wenn sich die verdrehten Körper näherten, mit abgewinkelten Gliedmaßen, halb geöffneten Augen, fahrigen Bewegungen, lauten Schreien: „Aaaaa-hiiii!“ Manchmal wagten die Tarantierten auf dem Platz ein paar Tanzschritte, aber ohne Musikbegleitung erlahmten die Bewegungen schnell wieder: „Wie die farbigen Teile eines zerschmetterten Kaleidoskops, die sich nicht mehr zu geometrischen Mustern anordnen können.“ So beschrieb die Szene Ernesto de Martino, der im Juni 1959 mit einer kleinen Gruppe Forschender in den Salento gereist war, um den Tarantismo zu ergründen.
Der Religionshistoriker, Geschichtsphilosoph und Begründer der italienischen Ethnologie veröffentlichte seine Erkenntnisse bald darauf in dem epochalen Werk „La Terra del Rimorso“, was sich sowohl mit „Das Land der Reue“ als auch mit „Das Land der Wiedergebissenen“ übersetzen lässt. Das Buch setzte einen Schlussstrich unter die Auffassung, hinter Tarantismo steckten eine Vergiftung oder eine Krankheit – und etablierte die bis heute gültige Interpretation als eine kulturelle Tradition. De Martino betrachtet das Ritual als Erbe der alten Griechen, die diesen Teil Italiens einst als Magna Graecia kolonisiert hatten, Dabei hinterließen sie auch ihre orgiastischen Kulte, bei denen sich vor allem weibliche Gläubige zu Musik in Ekstase tanzten. Unterbewusst tarnten die Tarantismo-Anhänger:innen des Salento dieses archaische Erbe lediglich als physische oder psychische Störung, um der Verdammnis durch die Kirche zu entgehen.
Allerdings fühlten sich die Auswirkungen für alle Betroffenen und ihr Umfeld sehr real an – und ausgerechnet die Kirche, die sich wegen der vermeintlichen Frevelhaftigkeit der Tanzenden sorgte, hatte zum Entstehen des Phänomens beigetragen. So wies De Martino darauf hin, dass Frauen das Gros der Tarantierten ausmachten. Sie litten in der wirtschaftsschwachen und abgelegenen Region besonders unter den strengen Moralregeln der katholischen Kirche und unter patriarchaler Unterdrückung. In Trance konnten sie zumindest kurzzeitig ausbrechen. Sie verfremdeten gewissermaßen ihre Bedürfnisse und durften dann, im Ritual von Regeln weitgehend entbunden, den Quälgeist wenigstens symbolisch zertrampeln. Die Ausbrüche, darauf weist der Wissenschaftler hin, häuften sich besonders in Umbruchszeiten, in denen Frauen und Marginalisierte besonders zu leiden hatten, etwa zu Beginn der Neuzeit oder zum Anbruch der Moderne. Mit seinen Forschungen verteidigte De Martino die Magie und Mystik des italienischen Südens gegen naserümpfende Norditaliener. Allem westlichen Fortschritt entgegen, so empfand er, hat sich im Salento eine italienische Form von Voodoo oder Macumba erhalten, also von Kulten des globalen Südens – als Mischung aus vorchristlichen und katholischen Ritualen.
Zur Form verfestigt
Heute ist der Salento zwar immer noch strukturschwach, vor allem im Inland. Aber dank Tourismus, Oliven- und Weinanbau sowie einigen Industriebranchen sind die Menschen zumindest nicht mehr bitterarm, auch neue Familienmodelle und Geschlechterrollen sind angekommen. Jedenfalls wird niemand mehr von Tarantelbissen in andere Bewusstseinszustände versetzt – das Ritual ist im Museum gelandet. Genauer gesagt: im städtischen Museum Pietro Cavoti in Bari, wo sich Gemälde, Fotografien, Bücher und Gebrauchsgegenstände zum Thema besichtigen lassen. Tarantismo wird hier als Ausdruck von Identität, Kreativität und kultureller Widerstandsfähigkeit gezeigt.
Die Pizzica-Musik und der Tarantella-Tanz erleben, entbunden vom Überbau des Rituals, sogar ein handfestes Revival. Anfang der Neunziger hatten zunächst nur ein paar lokale Aussteiger:innen im Grünen gecampt und barfuß zu der Musik getanzt. Dann gründeten sich Bands, es gab offizielle Konzerte. Und seit 1998 kommen jedes Jahr im August zehntausende Einheimische und Tourist:innen in 15 salentinischen Städten zum Festival La notte della Taranta (Die Nacht der Tarantel) zusammen, um bis zum Morgengrauen zu Pizzica-Musik zu tanzen – das italienische Staatsfernsehen überträgt live. Auf etlichen Videoclips ist zu bestaunen, wie sich im Zuge dieses „Neo-Tarantismo“ die alten Mechanismen von Verzweiflung und Ausbruch in reines Entertainment gewandelt haben – karnevalisiert, eine Gaudi für alle. Aus der Vergangenheit glüht wohl gerade noch genug Mystik herüber für einen wohligen Schauder auf dem Festival-Dancefloor. Die Tarantella gibt es nun auch als Paartanz, man kann sogar Kurse belegen.
„Aber etwas von den Ursprüngen ist immer noch da, und es ist immer noch stark“, beharrt Claudia Attimonelli. Sie hat in Berlin ihre Doktorarbeit über Techno und Tanzmusik-Kulturen wie den Tarantismo geschrieben und ist heute Professorin für Kommunikationswissenschaft in ihrem Geburtsort Bari im Norden des Salento und im französischen Montpellier. In den Neunzigern kam sie zum ersten Mal mit einem Tarantismo-Rave in Kontakt, wie sie im Buch Tarantismo – Odyssey of an Italian Ritual des Musikethnologen-Kollektivs Flee Project beschreibt. Nachdem sie und ihre Freund:innen in Autos stundenlang erfolglos über die verschlungenen Straßen des nächtlichen Salento mäandert waren, damals noch ohne Smartphones oder Navis, kurbelten sie schließlich irgendwo an einer Kreuzung mit einem heruntergekommenen Madonna-Schrein die Seitenscheiben runter. Da hörten sie es: Tamburine, Geigen, Klatschen, Rufe. Zu Fuß stolperten sie weiter durch die finstere Nacht auf die Lichtung eines Olivenhains. Dort tanzten Menschen jeden Alters im Staub, aufgewirbelt von bloßen Füßen, vor ihnen eine kleine Musikgruppe. Die Hände des eines der Musiker, der mit dem Tamburinspielers bluteten, so lange spielte er schon. Und wie alle anderen Anwesenden lächelte er.
Der sehr empfehlenswerte Reader „Tarantismo – Odyssey of an Italian Ritual“ beleuchtet das Phänomen von allen Seiten. Das Buch ist noch bei ausgewählten Buchläden erhältlich. Auf der begleitenden Musikcompilation (2xVinyl-LP/digital) finden sich Originalaufnahmen und Remixe von Elektronikmusiker:innen.