Reportage: Wachs und Gold

Spex

Die äthiopische Kultur ist mit nichts auf dem afrikanischen Kontinent zu vergleichen: Jahrtausende alt, immer unabhängig, nie frei. Eben darum war Poesie in Äthiopien stets politisch aufgeladen, und Worte ändern hier ständig ihre Bedeutung. Über Dichtkunst, Doppeldeutigkeiten und Dissidenz in Addis Abeba, der höchstgelegenen Hauptstadt Afrikas.

Die Luft ist dünn hier oben. Ringsum klaffen Schluchten, Vulkane türmen sich, davor Wüsten, dazwischen endlose Grassteppen. Und mittendrin, wie eine Fantasy-Festung, ein Hochplateau mit dieser Stadt darauf. Hier oben fällt das Atmen schwer und damit manchmal auch das freie Sprechen. Aber die Leute in dieser Stadt geben sich sowieso eher schweigsam, vor allem den offensichtlich Fremden gegenüber. Man weiß ja nie. Gerade allerdings sind ringsum junge, gut angezogene Menschen einander sehr zärtlich zugetan. Männer halten Händchen mit Männern, Frauen umarmen Frauen, und sie lesen einander aus pinkfarbenen Tageszeitungen vor oder aus Büchern, die auf raues Papier gedruckt sind. Die eng bestuhle Halle, in der sie unter Neonlicht und einer bröckelnden Deckenverkleidung sitzen, füllt sich. Plastikstühle werden durchgereicht, es gibt Popcorn, Pommes und Bedele, ein lokales Bier. Es ist stickig, und es dauert: Zwei Stunden sind nichts, wenn man auf die Tobiya Poetic Jazz Group wartet.

Doch irgendwann springt aus der Kulisse ein Herr in ausgebeultem Anzug, mit Schnauzbart und Selbsttön-Brille, und gibt zur Musik einer Jazzband eine endlose, atemlose Reimballade zum Besten. Es geht, so erfährt man, um das nervige Leben mit Mobiltelefonen. Der Saal johlt. Direkt danach deklamiert ein junger Typ, Vollbart, Schiebermütze, ein Gedicht über seine schwierige Liebe zu einer Frau, womit er zugleich diese Stadt meint. Andere reimen über aktuelle Nachrichten oder Bibelgleichnisse. Es ist eine Mischung aus Kabarett und Edutainment, Wochenschau und Poetry Slam. Die gut 1000 Zuhörer haben längst die Bücher beiseite gelegt, sie rufen Zustimmung oder murren Ablehnung, sie lachen sich schlapp oder singen mit. Ganz ohne Reaktion sitzt jedenfalls nur da, wer kein Amharisch kann – die Sprache, die hier gesprochen wird, beim Jazz-Dichtkunst-Happening in der Veranstaltungshalle des Ras Hotels in Addis Abeba, Äthiopien.

Die Stadt ist das Zentrum eines Landes, das von einer der straffsten Einparteien-Regierungen Afrikas regiert wird. Äthiopien, 90 Millionen Einwohner, zweitbevölkerungsreichstes Land Afrikas, liegt im Nordosten des Kontinents zwischen Somalia und Sudan, also zwischen zwei Dauerkrisenherden. Aber hier oben, in der höchstgelegenen Hauptstadt des Kontinents, 2500 Meter über dem Meeresspiegel, ist alles still. Denn bis auf ein paar aufständische Regionen hält die Regierung Äthiopien in eisernem Griff. So liegt das Land beim Index der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen auf Rang 142 von 180, nur ein paar Plätze vor Russland oder Myanmar. Bis 1991 herrschte hier noch ein streng kommunistisches Militärregime. Seit seinem Kollaps hat zwar die Wirtschaft ein paar Freiheiten erlangt. Aber auch heute noch nehmen, wenn man sich mit politisch Aktiven trifft, am Nebentisch junge Männer in Jeans und karierten Hemden Platz, die ostentativ zuhören. Der äthiopische Geheimdienst ist als nicht zimperlich bekannt – und für den Einsatz von Hightech-Schnüffelsoftware. In Addis Abeba haben manche Wände Ohren. Einige Einwohner ein zweites Gesicht. Und Worte ändern in der dünnen Luft der Stadt ständig ihre Bedeutung.

Dabei waren gerade Worte schon immer enorm wichtig für die äthiopische Gesellschaft. So haben früher vor Gericht manchmal Ankläger und Beklagter in Poesie miteinander gerungen – und der Gewinner war derjenige mit den besseren Versen, unabhängig vom Streitfall. Auch heute noch zählt der Text eines Liedes alles – die Melodie, eine große Stimme, das Beherrschen eines Instruments gelten dagegen nur wenig. Und Dichtkunst, Poesie, Verseschmieden, das ist in Addis tatsächlich eine kleine Bewegung.

Die Dichterin Aster Gebru* hat vor zehn Jahren die Tobiya Poetic Jazz Group mitgegründet, bei deren Performances im Ras Hotel von Addis alle paar Wochen fast 1000 Zuhörer auflaufen. Aster, die man wie alle Äthiopier nur beim Vornamen nennt, weil Nachnamen hier nicht Nachnamen sind, sondern nur wiederum der Vorname eines Elternteils, hat es nicht so gern, wenn man ihr eine E-Mail oder SMS schreibt. Die einzigen Telekommunikations-Anbieter im Land sind staatlich. Sie wird immer mal wieder von der Polizei vorgeladen, manchmal kommen auch Staatsdiener bei den Jazz-Poetry-Veranstaltungen vorbei und schneiden demonstrativ alles mit. Kein Wunder, dass die meisten Äthiopier ausweichen, wenn man sie auf Politik anspricht. „Aber in diesem Land ist alles politisch“, brummt Aster und holt tief Luft. „Wenn man kritisiert, dass das Internet zu lahm ist, dann trifft man damit ja auch wieder die Regierung. Was also soll ich tun?“

Blumenrabatten, Bürgersteige, Buslinien

Addis Abeba und vermutlich auch der Rest Äthiopiens sind mit nichts in Afrika zu vergleichen. Nicht nur, weil es in der Hauptstadt mit ihrem milden Klima tatsächlich handgepflegte Blumenrabatten gibt, moderne Buslinien, Bürgersteige und vergleichsweise wenige lärmende, stinkende Dieselgeneratoren, da die Stadt über Wasserkraft einigermaßen stabil mit Strom versorgt wird. Vor allem ist hier alles uralte Kultur und superjung zugleich: Äthiopien gilt dank des 3,2 Millionen Jahre alten Hominidengerippes „Lucy“ als die Wiege der Menschheit, hat eine seit 2000 Jahren dokumentierte Staatsgeschichte, die sich von der biblischen Königin von Saba ableitet, eines der ältesten noch heute genutzten Alphabete, seit 1500 Jahren ein eigenes System für Musiknotation, einen eigenen Kalender (mit 13 Monaten) und sogar seit jeher eine eigene Uhrzeit.

Zugleich aber ist die Hauptstadt Addis Abeba gerade mal etwas mehr als 100 Jahre alt – gegründet, weil der damaligen Kaisergattin weiter oben auf dem benachbarten Berg Entoto zu kalt war. Es ist die einzige Stadt Afrikas, die nicht von Europäern erbaut wurde. Ihr Name ist Amharisch für „Neue Blume“. Eine Boomstadt, als Sitz der Afrikanischen Union quasi die Hauptstadt Afrikas, der Nabel des Kontinents, zwar bis dato gerade mal drei Millionen Einwohner, aber rasant wachsend. Zwischen einstöckigen Läden fräst sich auf brutalen Betonstelzen eine neue S-Bahn durch die Stadt, überall machen Bulldozer alte Häuser platt. Investoren aus dem Mittleren Osten und Ostasien kaufen ganze Viertel auf, um Shopping Malls und Büro-Wolkenkratzer hochzuziehen. Bislang sind viele davon allerdings nicht mehr als Betonskelette, weil die lokale Baubranche zwar die Rohbauten selber hinbekommt, aber das Material für die Installationen mühselig über das winzige Nachbarland Dschibuti importieren muss. Seinen Seezugang hat Äthiopien nach einem Unabhängigkeitskrieg an Eritrea verloren.

Auch kulturell ist dieses Land unvergleichlich. Äthiopier tanzen nicht mit den Hüften wie fast der gesamte Rest Afrikas, sondern mit den Schultern und dem Brustkorb. Die äthiopische Musik mit ihrer nur fünfstufigen Tonskala, die alle wichtigen ethnischen Gruppen des Landes spielen, Amharen, Tigray und Oromo, klingt einzigartig vergrübelt, melancholisch, spannungsgeladen. Und: Anders als in so vielen anderen afrikanischen Großstädten dominieren in Addis Abeba nicht 50 Cent und Sean Paul, HipHop und Dancehall. Ausländische Musik interessiert generell nicht so, hat sie nie, auch nicht die großen kontinentalen Wellen aus anderen afrikanischen Kulturräumen, ob nun in den Sechzigern kongolesische Rumba oder heute nigerianischer Naija-Pop. Stattdessen laufen im Radio fast ausschließlich äthiopische Musiken, von althergebrachten Genres, die man hier „Cultural Music“ nennt, bis zu Synthesizerpop-Versionen alter Hits. Die Globalisierung war hier noch nicht, zumindest nicht kulturell, zumindest noch nicht so richtig.

Es gibt natürlich Gründe für all diese Sonderbarkeiten und Selbstgenügsamkeiten. So waren die verschiedenen äthiopischen König- und Kaiserreiche stets geografisch isoliert, abgeschnitten durch tiefe Schluchten und steile Hochplateaus von den Handelsströmen zwischen Ostafrika, Arabien und Südasien. Vor allem aber musste sich Äthiopien als einziges Land des gesamten Kontinents nie einer westlichen Kolonialmacht beugen. Zwar war es zwischen 1936 und 1941 mal von Mussolini besetzt – aber eben nur besetzt, nur vergleichsweise kurz, und vorher hatten die Äthiopier Italien sogar schon mal militärisch geschlagen. Darum hat sich die Gesellschaft wohl kein Kolonialtrauma eingefangen, die Menschen haben nicht diesen Zorn auf die Weißen und auf sich selbst, den der kamerunische Philosoph Achille Mbembe einst ausgemacht hat.

So kann einem der Umgang mit Europäern in Addis Abeba eine Idee davon geben, wie es in Afrika wohl wäre, wenn es die Zeit der Grausamkeiten nicht gegeben hätte: Man tritt den Ferenji, wie man hier alle Fremden nennt, aufrecht gegenüber, stolz, manchmal fast schon arrogant. Und das, obwohl die Menschen im früheren Abyssinien und heutigen Äthiopien doch immer wieder unterdrückt wurden, ob nun von den absolutistischen König- und Kaiserreichen, den kommunistischen Militärs oder der heutigen Einparteienregierung.

Bewundert und verachtet

Nur eine Gruppe hat in den verschiedenen äthiopischen Gesellschaften mit ihren tief verwurzelten autoritären Traditionen stets das Maul aufgemacht: die Azmaris. Das sind Wanderdichter, Vaganten, Troubadure, ähnlich den Griotsvon Westafrika, die einem in spontanen Freestyles die krassesten Texte und härtesten Witze an den Kopf knallen, sogar zu den beiden großen Tabu-Themen der konservativen äthiopischen Gesellschaft, Sex und Politik. Azmaris bildeten stets eine eigene Kaste, vom regulären Äthiopier heimlich bewundert, öffentlich aber verachtet, weil Musik in Äthiopien nichts zählt, und Musiker auch nicht. Es ist ein rätselhaftes Paradoxon: In einem Land, das unvergleichliche musikalische Traditionen hervorgebracht hat und weiter hervorbringt, gelten Musiker und Musikerinnen als verachtenswerte Halbweltkreaturen mit dem bösen Blick, bis heute.

Ganz besonders trifft das auf die Azmaris zu, denen viele die Meinungsfreiheit neiden, und deren Direktheit viele fürchten. Dennoch fragten früher die Adeligen und Militärs immer die Azmaris, wenn sie wissen wollten, was im Volke vor sich ging. Und die italienischen Besatzer ließen die Wanderbarden jagen und hinrichten, weil sie sich von ihnen bedroht fühlten. Kein Wunder, denn die Azmaris vermitteln ihre Botschaften kodiert mit einer ästhetischen Strategie, die auf Amharisch Sem-enna-Werq genannt wird, auf Deutsch „Wachs und Gold“: Bei den Versen ist der goldene Kern der Wahrheit im Inneren zu finden, umhüllt von Wortspielen, Parabeln, Metaphern und Mehrdeutigkeiten, dem Wachs. Heute ist „Wachs und Gold“ omnipräsent in der äthiopischen Kultur, beim Gespräch im Straßencafé ebenso wie beim Jazz Poetry Slam. Schließlich kann immer jemand daneben sitzen, der oder die den Offiziellen berichterstattet. Kodierte Kritik, auch als Dichtung, manchmal zu Jazzmusik – das kann einen durchaus an Dissidenz in der DDR erinnern.

Ein kommender schweizerisch-deutscher Dokumentarfilm wird das Phänomen von „Wachs und Gold“ erkunden. Eine der Hauptdarstellerinnen dieses Films wird die Azmari-Sängerin Nardos Tasfaw sein, big hair, großes Dekolletee, dort eingeklemmt ein großes Kreuzamulett. „Natürlich haben meine Texte mehrere Bedeutungen“, sagt Nardos, 25, die aus der alten Kaiserstadt Gondar im Norden Äthiopiens stammt, wo auch die Azmari-Tradition einst geboren wurde. Ihr Vater starb, als sie fünf war, sie musste Geld mit Steineschleppen auf den Baustellen von Addis verdienen. Dabei wollte sie stets Sängerin werden. „Aber ein Azmari zu sein ist schwer“, sagt sie. Sie werde als leichtes Mädchen verachtet oder wie eine Gammlerin behandelt. Ihre Verwandten akzeptierten ihren Job bis heute nicht.

Dabei arbeitet Nardos hart in Addis. Mehrmals die Woche steigt sie frühabends in einem Abendkleid in ein Minibus-Taxi und fährt zum Stadtteil Kazanchis. Hier hatten einst die italienischen Besatzer Staatsbedienstete untergebracht, heute ist das Viertel eins der Nachtleben-Zentren der Stadt. Auf der Zewditu Street tut sich hinter einem orangefarbenen Blechtor ein Raum auf, kreisförmig, so wie früher in Äthiopien die Häuser gebaut wurden. Darin: rotes Schummerlicht, niedrige Decken, abgehängt mit Bastmatten und Tüchern, an den Wänden historische Fotos und Musikinstrumente, auf dem Boden getrocknetes Gras, Sitzschemel, niedrige Tische. Das hier ist Fendika, ein Azmari Bet – auf Deutsch Azmari-Haus. Ursprünglich hatten die Azmaris keinen festen Ort, sie nahmen auf Dorfplätzen Quartier oder drückten sich in den dunklen Ecken der Städte herum. Doch nach dem Ende der kommunistischen Diktatur wurden die Wanderbarden zumindest in den Städten sesshaft. Ihre Azmari Bets waren meist nicht mehr als eine Einraum-Wellblechhütte mit Sitzgelegenheiten und ein paar Trinkgefäßen. Kein Soundsystem, das hätte sich niemand leisten können.

Wenn Nardos im Fendika ankommt, ist der Schuppen oft schon gerammelt voll. Die Gäste trinken den alten Honigwein Tej, den man auch „der Eifersüchtige“ nennt, weil man ihn keinesfalls mit anderem Alkohol mischen darf, will man einem Mörderkater entgehen. Hier ist Filmen ist verboten, Fotos werden nicht gern gesehen, man ist unter sich. In einer Ecke spielt jemand sitzend auf rechteckigen Trommeln, ein Masinko-Spieler folgt Nardos durch den Raum. Zum Leiern der einsaitigen Laute singt die Azmari ohne Mikrofon, sie dichtet spontan, frei flottierend zwischen den Leuten. Ihre Verse richten sich nach dem Publikum: Für Jüngere geht es eher um leichte Themen, Sex, Spaß, bei Älteren kann es ernsthafter werden, auch politisch. Man kann der Dichtersängerin Verse einflüstern, etwa um mit anderen Gästen zu kommunizieren. Das kostet aber Trinkgeld. Nardos reißt auch derbe Witze, auch auf Kosten des ausländischen Besuchers und seines vermuteten Sexualverhaltens, der Laden brüllt, aber fast jeder kommt mal an die Reihe. Es ist Stimmung in der Bude.

Zu einem Schemen verschwommen

Melaku Belay hat gekämpft, um diesen Ort zu erhalten. Er war 1997 obdachlos im Fendika gestrandet, arbeitete als Bedienung und Tänzer, schlief elf Jahre lang unterm Tresen, bevor er den Laden erst selber mieten und schließlich dank Finanziers sogar kaufen konnte. Melaku, ein fließender Typ, freigiebig, freigeistig, feminin, wurde vor 40 Jahren in Addis geboren. Er ist heute nicht nur Clubbetreiber, sondern auch Kopf der Band Ethiocolor und vermutlich Äthiopiens bekanntester Tänzer. Beim klassischen Eskista-Tanz kann er seinen Oberkörper so schnell in Zuckungen versetzen, dass er bis zur Hüfte zu einem Schemen verschwimmt.

Melakus Fendika ist so etwas wie ein traditionelles Azmari Bet – aber auch ein Ort für Touristen, Expats oder Diaspora-Äthiopier auf Heimaturlaub. Die Musikbar ist in der Drei-Millionen-Einwohner-Stadt Addis Abeba anscheinend der einzige Ort für Subkultur nach westlichem Verständnis. Hier dürfen sogar mal andere Musiker als Azmaris auftreten, etwa äthiopische Rapper, der norwegische Power-Jazzdrummer Paal Nilssen-Love oder die holländische Punkband The Ex. Allerdings kritisieren die Kulturkonservativen von Addis eben darum auch diese leicht verwestlichte, verpoppte Version eines Azmari Bets. Aber Melaku interpretiert die Tradition halt neu, um sie zu erhalten. „Tradition ist nichts Statisches oder Eingefrorenes“, sagt er, „sie muss vibrierend und unverfroren sein.“

So hoch halten viele Äthiopier ihre Traditionen inzwischen auch gar nicht mehr. „Vor allem die Jüngeren respektieren die Azmaris und ihre Dichtkunst nicht“, sagt Melaku und saugt zischend die Luft ein. Keyboard-Alleinunterhalter oder DJs ersetzen zunehmend die Live-Dichter, und statt in Azmari Bets gehen bessersituierte Äthiopier heute lieber in westlich gestylte Cocktailbars. Die Globalisierung hält Einzug, langsam, aber nicht aufzuhalten. Fendika ist denn auch eins der letzten Azmari-Häuser von Addis. Bauboom und rasant steigende Immobilienpreise haben das Ende für die meisten der Clubs bedeutet – das ist in Addis nicht anders als in Berlin oder New York. „Wir haben hier zwar noch nicht so viele Identitätskrisen wegen irgendwelcher Einflüsse von außen“, sagt Melaku mit seiner hellen, sanften Stimme, während seine Frau im Hintergrund Kaffeebohnen für eine traditionelle Kaffeezeremonie röstet. „Aber wir müssen uns anstrengen, um unser Erbe zu bewahren.“

Eine Anmerkung zum Ende des Abends

Aber es gebe da ja neben Fendika noch die Tobiya Poetic Jazz Group, sagt Melaku, „die neuen Azmaris“. Die jungen Leute kommen zu deren Veranstaltungen, weil ihnen die Dichter da oben auf der Bühne etwas zu sagen haben. Weil sie ein gemeinsames Verständnis herstellen. Weil es sich relevant anfühlt. So wird hier Gold geschürft, mit Wachs umhüllt und von denen, die es richtig verstehen, wieder freigelegt.

Zum Ende des Abends im Ras Hotel hat allerdings ein älterer Herr auf der Bühne noch eine Anmerkung: Wie es denn sein könne, dass Künstler in Äthiopien immer nur die Liebe behandeln, nie aber politische Probleme ansprechen? Diese sehr direkte Frage wird vom Publikum genauso beklatscht wie die Beiträge über Handys oder verbotene Liebe. Wie das sein kann, wo doch hier alle immer nur um die Ecke reden? Vielleicht meinte der Herr, was er sagte, vielleicht auch nicht. Bedeutungen sind fluide und flüchtig hier oben, 2500 Meter über dem Meer, in der dünnen Luft von Addis Abeba.

* Name geändert