Wer zum Gedächtnis der Autostadt möchte, muss in einem der Autotürme einer schmalen Metalltreppe unter die Erde folgen. Hier unten bringen selbstfahrende Plattformen lautlos fertige Fahrzeuge aus den Türmen in das Kundencenter. Der enge Fußweg daneben ist gespickt mit schwarz-gelben Warnmarkierungen. Irgendwo öffnet sich dann eine Brandschutztür, Neonlicht flackert an. „Da wären wir“, sagt Sebastian Irmer, und lässt den Blick stolz über endlose Reihen von Schränken und Regalen, Kisten und Kartons schweifen, die sich in die Tiefe des mehr als 300 Quadratmeter großen Raums erstrecken.
Wir befinden uns jetzt direkt unter den Bassins neben den Türmen, über uns schwappen tausende Liter Wasser. Hier unten lagert das historische Archiv der Autostadt – vermutlich die einzige Sammlung von Zeitzeugnissen in dieser Größenordnung weltweit, die unter Wasser liegt. Und der 43-jährige Irmer ist dessen Hüter: Er weiß alles zur Vergangenheit der Autostadt oder wo es zu finden ist.
Welchen Entschluss genau hat der Aufsichtsrat noch mal vor zehn Jahren zu dieser einen Angelegenheit gefasst? Was genau wurde früher mit den Künstlern besprochen, die Werke für die Piazza beigesteuert haben? Und wie sah das Gelände, auf dem sich heute die Marken Pavillons verteilen, eigentlich vor Baubeginn aus? Wann immer solche oder ähnliche Fragen in der Autostadt auftauchen, kommt Irmer in den großen Raum unter dem Wasserbassin und recherchiert. Anlässlich des 25. Geburtstags der Autostadt wird er hier unten häufiger anzutreffen sein.
„Sehr, sehr gute Rahmenbedingungen“
Irmer trägt dann mindestens einen warmen Pullover, denn im Archiv ist es kellerkühl, im Sommer wie im Winter herrschen konstant 18 Grad, bei 40 bis 60 Prozent Luftfeuchte, für die irgendwo im Raum ein Luftbefeuchter rauscht und rattert. Anders aber als in vielen Kellern gibt es keinen Staub, ebenso wenig wie Fenster, schließlich ist Tageslicht schädlich für all die Unterlagen und Objekte ringsum. „Das sind sehr, sehr gute Rahmenbedingungen, um Sachen lange aufbewahren zu können“, sagt Irmer.
Und anders als in vielen Kellern ist es ordentlich, sehr ordentlich: In den grauen Stahlschränken, drei Meter hohen Rollregalen und blau-orangefarbenen Stahlablagen, die bis zu 600 Kilogramm je Boden tragen können, hat Irmer zahllose penibel beschriftete Aktenordner, Holzkisten, Aluboxen und in Folie eingeschlagene Objekte eingelagert. „Hier landet alles aus dem Unternehmen Autostadt, von dem wir denken, dass es irgendwann nochmal relevant sein könnte“, sagt er.
Die ältesten Unterlagen stammen aus den frühen Neunzigerjahren. Darüber mussten Irmers Kollegen aus anderen Institutionen ein bisschen schmunzeln, als Irmer seine Fortbildung zum Archivar gemacht hat. Schließlich beschäftigen sich Archivare sonst mit Objekten, die nicht selten hunderte von Jahren alt sind. Die Autostadt feiert zwar jetzt ihren 25. Geburtstag – aber damit ist sie eben auch erst 25 Jahre jung.
Alles hat seinen Platz
Der Archivar geht das Spalier der Metallschränke entlang, die Material aus jeweils bestimmen Abteilungen der Autostadt enthalten. Sie tragen Beschriftungen wie „46-48 – Inszenierung“ oder „31-33 – Handelskommunikation und Messen“. Er öffnet einen von ihnen greift hinein. Zutage kommt Material der Marketing-Kampagne „Nordischer Sommer“ von 2011 zutage: Flyer, Plakate, Programmhefte im ansprechenden Retrolook. In anderen finden sich Geschäftsunterlagen oder Zeitungssauschnitte, Fotos oder Skizzen für die Gartengestaltung.
In den großen Schwerlastregalen an der Rückwand des Raums lagern vor allem größere Objekte. So lassen sich etwa unter einer Noppenfolie die organischen Formen des Kinderbereichs Mobiversum aus dem Konzernforum erahnen. Direkt gegenüber hat Irmer unterschiedliche Pflastersteine gestapelt. Dieselben Sorten sind draußen auf dem Gelände verbaut. Anhand der eingelagerten Exemplare lässt sich in Zukunft vergleichen, wie die Pflasterung ursprünglich mal aussah – und wie sie sich in Benutzung und unter Einfluss des Wetters verändert hat. Ein Stück weiter steht ein Entwurf des Dufttunnels von Künstler Olafur Elíasson, der in seiner Plexiglasvitrine selbst wie ein kleines Kunstwerk anmutet.
Archivar Irmer schlägt die Folie über einem weiteren Modell beiseite. Es zeigt das Gelände der heutigen Autostadt vor Baubeginn, als hier noch eine Kohlehalde für das Kraftwerk sowie Hafenbecken und Parkplätze lagen. Gleich am Eingang zum Archiv stellt dagegen eine Miniaturlandschaft von 1998 die damals geplante Autostadt inklusive Teile des Volkswagen Werks und der angrenzenden Stadt Wolfsburg dar. Betrachtet man unter der kundigen Führung des Archivars Irmers mehrere Pläne und Modelle des Geländes in chronologischer Abfolge, dann kann man quasi der Autostadt Schritt für Schritt beim Werden zusehen.
Apropos Chronologie: Einst begann doch bestimmt alles mit einem Spatensicht – gibt es hier irgendwo auch ein Foto davon? Kein Problem für Irmer. Er bewegt die großen Rollregale über die daran befestigten Räder, öffnet einige graue Fotokartons. Darin sind Fotos von Baugruben, schweren Maschinen, Materialstapeln. Und schließlich, nach nur wenigen Minuten, hält er es in der Hand: Ein Foto von sechs Männern in Anzügen und mit weißen Bauarbeiterhelmen, die am 12.05.1998 stolz lächelnd ihre Spaten in die Erde stecken. „So war das damals“, sagt Irmer mit einem leichten Lächeln und räumt dann alles wieder ein.
Früher gab es mehr Papier
Solche Suchanfragen sind ein Leichtes für den Archivar. Manchmal stöbert er hier drei Tage am Stück auf der Suche nach einem bestimmten Dokument durch zahllose Schränke, weil eine Abteilung der Autostadt ihn damit beauftragt hat. Manchmal stehen morgens zwei große Kisten mit Aktenordnern in seinem Büro – verbunden mit der Bitte, dass er diese doch alle einmal durchsortiert und das, was es wert ist, in das Archiv eingehen lässt. Als die Autostadt 2013 ein neues Logo bekommen hat, landete tonnenweise nun veraltetes Material mit den alten Logos aus allen Abteilungen bei ihm, das er in Extraschichten sortiert und eingeordnet hat.
Überhaupt kam früher noch kistenweise Papier im Archiv an. Irmer hatte zu der Zeit noch zwei Kollegen, die täglich damit beschäftigt waren, Aktenordner oder Kartons voller Ausdrucke aufzunehmen und in den Schränken einzulagern. Damals konnte Archivarbeit auch körperliche Arbeit sein. Heute werden fast alle Dokumente digital abgelegt. Die verwaltet Irmer ebenfalls, wenn sie ins historische Archiv gehören. Höchstens mal ab und an ein Modell stellt er inzwischen in seine Regale. „Aber eigentlich“, sagt er, macht das Licht aus und lässt rummsend die Tür zufallen, „ist es mir am liebsten, wenn ich etwas in der Hand halten und ordentlich einsortieren kann.“
Zur Person
Sebastian Irmer verwaltet das Gedächtnis der Autostadt. Der gebürtige Sachsen-Anhaltiner hatte ursprünglich Kunststoff-Formgeber gelernt, bevor er 2001 in der Autostadt anfing. Nach Stationen in der Gästebetreuung und der Poststelle übernahm Irmer 2010 die Leitung des historischen Archivs. Mit Unterstützung der Autostadt absolvierte er zahlreiche Fortbildungen an der Archivschule Marburg – Hochschule für Archivwissenschaft. Im Archiv der Autostadt sorgt er für exakte Ordnung und Systematiken. Bei ihm zu Hause aber, gibt er zu, ist eher seine Frau für die Ordnung zuständig.