Es kann düster sein unter der Sonne Afrikas

Die Zeit

Schwarzer Metal vom schwarzen Kontinent: Der kenianische Avantgardesänger Lord Spikeheart beschwört auf seinem Debütalbum die erfrischende Energie des Chaos.

Die Übertragungen kamen meist nachts. Wenn das Viertel schlief und draußen der Regen von den Dächern tropfte, irgendwo im Hintergrund noch der dauerhupende Verkehr von Kenias Hauptstadt Nairobi. Verrauscht klang dann 40, 50 Jahre alter Hardrock aus dem Radio: Black Sabbath, Led Zeppelin, Motörhead, solche Sachen. Ohne Moderation, ohne Werbung, nonstop. „Ein Geister-Radiosender“, erinnert sich Martin Kanja, er bekommt heute noch Gänsehaut. Irgendwann sei die Station einfach verstummt.

Aber die Sendungen aus dem Nichts hinterließen Spuren: Sie haben mit dafür gesorgt, dass sich der Kenianer Kanja in den avantgardistischen Deathmetal-Sänger Lord Spikeheart verwandelt hat. Der beschwört jetzt auf seinem Solo-Debütalbum „The Adept“ mit einer Stimme, die zugleich abgrundtief grollen und wie besessen keifen kann, die erfrischende Energie des Chaos. Die Lieder dazu mischen Gitarrengeschredder, Gabbertechno, nihilistische Trap-Beats, und hyperschnelle Drum-Gewitter. Ein Best-of vom Finstersten, also, aus Ostafrika.

Dann, klar, unter der Sonne Afrikas kann es auch ziemlich düster sein. In den Wäldern hausen die Geister der Ahnen, auf dem Markt gibt es Hexenfetische für jeden Anlass, und vor dem Haus tropft das Blut eines frisch geschlachteten Ziegenbocks in den Sand. Spätestens seit Mitte der Siebziger im südlichen Staat Sambia die psychedelischen Hardrock-Bands der sogenannten „Zamrock“-Bewegung wie Witch oder Musi-O-Tunya ihre E-Gitarren in Verzerrer stöpselten, wird in vielen Ländern, Regionen und Städten Subsahara-Afrikas von meist kleinen Minderheiten auch der mehr oder weniger harte Rock gepflegt.

Afrikanische Headbanger sind echte Outlaws – schon allein, weil man es zumindest an den wärmeren Orten des Kontinents schon ernst meinen muss, wenn man den Alltag in dickem, schwarzem Leder bestreiten will. So wie die legendären Deathmetal-Schlachtrösser Overthrust, die in Bikerboots durch die rote Erde von Botswana stapfen, wo die Band sogar alljährlich ihr eigenes Festival „Winter Metal Mania“ veranstaltet. Aber auch von Angola (mit den Thrash-Metallern Dor Fantasma) bis Togo (mit den spirituell angehauchten Afro-Metals Arka’n Asrafokor) finden sich überall auf dem Kontinent Metalbands. Mit dem Projekt Nishaiar sogar im tieforthodox-konservativen Äthiopien.

In ein Loch fallen ohne jeden Halt

„Ich habe mich noch nie besonders darum geschert, dazu zu gehören oder sozial akzeptiert zu sein“, sagt der 1990 geborene Martin Kanja alias Lord Spikeheart. Dem Onlinemagazin The Quietus erzählte er mal, er liebe Musik, die ihm das Gefühl vermittele, in ein Loch zu fallen ohne jeden Halt: „Das ist ein Audio-Overload, der sogar deinen Bewusstseinszustand verändern kann.“ Aber selbst wenn er auf Fotos genregerecht finster in die Kamera starrt – der schlaksige Kanja ist eigentlich jemand, der ständig übersprudelt vor Lachen, Freude und Begeisterung. Wer sich mit seiner dunklen Seite beschäftigt, kann sich eben manchmal auch überwinden.

Kanja wuchs am Rande der zentralkenianischen Stadt Nakuru auf, ein Kind mit, wie er selbst sagt, „viel, viel, viel Vorstellungskraft“. Anstatt mit den anderen Jungs Fußball zu spielen, saß er lieber unter dem Baum und las okkulte Fantasyliteratur, etwa von H. P. Lovecraft. Damals war, erinnert er sich, eine Spende aus Kanada in der Schulbücherei in der kenianischen Provinz angekommen, weshalb dort massenhaft seltsame Bücher herumstanden.

Seine Freunde waren die ein oder zwei Goth-Kids, die es außer ihm noch in der Nachbarschaft gab. Outsider, die am liebsten gemeinsam Zombiefilme geschaut, düstere Gedichte geschrieben und Splattercomics gezeichnet haben. „Mich hat schon immer all das interessiert, was nicht normal ist“, sagt Kanja: „Diese Idee, dass es eine andere Realität hinter unserer langweiligen gibt, die wir nicht mit dem nackten Auge erkennen können.“ Solcherlei Esoterik war ihm aus seinem christlichen Elternhaus vertraut. Er hat sie halt nur nicht christlich ausgelegt.

Mit dieser Sicht auf die Welt wollte schon der kleine Martin am liebsten Sänger einer Band werden. Als Jugendlicher fand er eines Tages in einem Schuppen auf der Farm seines Onkels eine alte Gitarre, abgeschrammt, voller Hühnerscheiße, mit nur drei Saiten. Niemand wusste, wie die dahingekommen war. Er durfte sie behalten, hat sie instandgesetzt und benutzt sie bis heute. Ein magisches Objekt, ein Fingerzeig aus der Zwischenwelt vielleicht, dass er das mit der Musik wirklich durchziehen sollte. Und das tat er. „Alles Gute und Schöne in meinem Leben heute rührt von dieser Entscheidung her, die ich damals getroffen habe“, sagt Kanja.

Der Computer kann härter spielen

Nach einem Umzug in die kenianische Hauptstadt Nairobi gründete er 2010 mit Freunden die Speedcore-Band Lust Of A Dying Breed und wurde zu Lord Spikeheart. Solche Kunstnamen hatten alle in der Metalszene der Stadt, und seiner kam von der stacheligen Frisur, die er damals trug. In die Musik der Band und des Nebenprojekts Seeds of Datura schlich sich nach und nach immer mehr Elektronik ein. „Das kam einfach aus der Notwendigkeit, etwas aus nichts zu machen“, sagt Kanja, „Wir wollten die heftigste Musik spielen, die wir machen konnten, aber wir hatten keine Instrumente. Also haben wir angefangen, die durch den Computer zu ersetzen.“

Mit Erfolg: Ihm wurde klar, dass man mit Elektronik viel krasser sein kann als mit einer herkömmlichen Band. „Kein Schlagzeuger und kein Gitarrist kann so schnell und so hart spielen wie ein Computer“, sagt Kanja. „Es gibt dann kein Limit mehr.“ Das sind Gedanken, über die traditionelle Metalheads böse den Kopf schütteln würden, und das nicht headbangend auf und ab. Aber Lord Spikeheart ist ja auch kein traditioneller Metalhead.

Durch die Experimente auf ihn aufmerksam geworden, lud ihn die umtriebige Avantgarde-Plattenfirma Nyege Nyege Tapes, die von zwei Europäern in der ugandischen Hauptstadt Kampala betrieben wird, 2018 in die labeleigenen Studios ein. Kanja brachte seinen Bandkumpel Sam Karugu mit, und die beiden gründeten vor Ort das Noise-Grindcore-Duo Duma, was in der lokalen kenianischen Sprache Kikuyu „Dunkelheit“ bedeutet.

Das selbstbetitelte Debütalbum sorgte im Sommer 2020 für viel Begeisterung, weil darauf die extremen Schreivocals von Lord Spikeheart auf verwaschen verzerrte Computerbeats und düstere Ambient-Atmosphären trafen. Der Gesamteindruck war der von rostigen Maschinen, überlasteten Schaltkreisen und knirschendem Zerfall – der passende Soundtrack für die damals herrschende Corona-Klaustrophobie. Leider haben sich Duma, die kurz darauf vom US-amerikanischen Indie-Riesen Sub Pop gesignt wurden, anscheinend zerstritten. Von Kanja jedenfalls kein Wort mehr zu dem Projekt.

Internationale Krachschläger

Umso lieber spricht er über sein Solo-Debütalbum „The Adept“, vor dem Fenster zwitschernde Vögel und die sieben grünen Hügel von Kampala, wo er inzwischen dauerhaft wohnt. Mit dem oder der „Eingeweihten“ aus dem Titel meint Kanja vor allem seine Großtante Muthoni wa Kirima, die als einzige Frau im Rang eines Feldmarschalls bei der antikolonialen Unabhängigkeitsbewegung Mau-Mau bis 1960 gegen die Briten kämpfte. Aber auch die anderen Mitwirkenden an dem Album sind für ihn Eingeweihte – eine Art internationale Krachschläger-Avantgarde hat er da versammelt, von Mitgliedern der irrlichternden indonesischen Noise-Duos Senyawa und Gabber Modus Operandi über die sambisch-kanadische Trap-Metal-Rapperin Backxwash bis zu dem japanischen Produzenten und DJ Scotch Rolex.

Veröffentlicht wird „The Adept“ auf Kanjas eigenem, neu gegründeten Plattenlabel Haekalu Records. Das bedeutet „Tempel“ in der ostafrikanischen Verkehrssprache Swahili, und die kleine Plattenfirma wird sich nach eigener Aussage „der dunkelsten, heavysten Musik des Kontinents“ widmen. „Es gibt so viele Metalbands in Afrika und lokale Szenen, die es wirklich ernst meinen“, sagt Kanja. Denen will er eine Infrastruktur bieten. Und damit gleich mal in seiner Heimat Kenia und seiner Wahlheimat Uganda anfangen.

Denn in den stark christlich geprägten Ländern hätten es Bands mit düsteren Outfits und düsteren Themen nicht leicht, berichtet Kanja. Auftritte seien schwierig zu bekommen, weil Veranstalter:innen schnell satanistische Umtriebe fürchteten. Allerdings würden die christlichen Kirchen die Metalszene auch unterstützen – unfreiwillig. Die Priester und Pastoren hätten nämlich oft Proberäume zu vergeben, welche die Bands dann inkognito anmieteten. Bis mal jemand bei den Proben zuhört und sie wieder rausfliegen.

Kanjas Mutter ist übrigens selbst Vorsitzende einer kleinen christlichen Kirche. Aber für sie ist es okay, was ihr jüngster Sohn als Lord Spikeheart so treibt. Wie alle Mütter wünscht sie sich vor allem, dass er glücklich ist. „Und ich tue ja auch nichts Böses oder Falsches“, sagt Kanja. Seine Texte, die er auf Englisch und im Straßenslang Sheng verfasst, seien immer positiv, sie handelten meist von Gesundheit, Erfolg und Spiritualität. „Es geht darum, Stress abzubauen“, sagt er. „Und einfach um Freude, Spaß und Glücklichsein im Leben.“