Chike sagt, ihm sei im Traum ein Beat erschienen. Als wir vorhin zurückkamen, mitten in der Nacht, da saßen er und seine Leute noch auf der Straße, soffen und hörten Musik. Also haben wir uns zu ihnen gesetzt, auf verkohlte Holzbalken und kaputte Plastikstühle. Irgendwann verschwand auch der Typ, der uns mit seiner Kalaschnikow bedroht hatte. Er war betrunken und brüllte, die anderen wimmelten ihn ab. War nur ein Soldat, der seine Knarre ins Wochenende mitgenommen hat, sagten sie hinterher. Wollte nur den dicken Max machen.
Nun sitzen wir bei Doctor, der älteren Frau, die neben ihrer Kühlkiste tanzt. Sie verkauft daraus Bier und Kräuterschnaps, der schmeckt wie Jägermeister mit Benzin. Da ist General, der behauptet, er habe schon in mehreren Bürgerkriegen gekämpft. Obwohl es doch nur einen gab in diesem Land. Daneben Leo, ein alternder Riese, immer betrunken, aber zum Sterben herzlich. Und natürlich der vierschrötige Chike, Kopf der Truppe, der sagt, ihm sei letzte Nacht ein Beat erschienen. Den hatte er daraufhin tagsüber in seinem kleinen Studio aufgenommen, und der läuft jetzt hier, nachts auf der Straße, in voller Lautstärke. Obwohl gegenüber ein Krankenhaus ist.
Lagos: eine Superlativstadt in einem Superlativstaat
Rings um unser kleines Straßenlager gehen, stehen, sitzen, tanzen, essen, schlafen gerade zwischen 15 und 20 Millionen Menschen, so genau weiß das keiner. Auf jeden Fall ist Lagos im westafrikanischen Nigeria die größte menschliche Ansiedlung Subsahara-Afrikas. Eine Superlativstadt in einem Superlativstaat: Nigeria ist das bevölkerungsreichste Land des Kontinents, es ist der wichtigste Ölproduzent Afrikas, und trotz gesunkener Ölpreise generiert es immer noch unglaubliche Geldströme. Nigeria hat bald so viele Internetnutzer, wie Deutschland Einwohner hat.
Vor allem junge Menschen sind über die sozialen Medien mit der ganzen Welt verbunden und darum bestens informiert über neue Mode oder Musik. Aber nicht nur das. Politische Blogger wie der 1984 geborene Internetstar Japheth Omojuwa erreichen über das Netz viele Winkel des riesigen Landes und stoßen dort virale Debatten gegen Korruption an oder organisieren friedliche Proteste, die jüngst sogar mitverantwortlich waren für einen Machtwechsel an der Regierungsspitze.
Nigeria ist also hochdynamisch – aber auch extrem labil. Zerrissen von schnellem Bevölkerungswachstum, sozialer Ungerechtigkeit und ethnischen Konflikten. Mehr als 250 Völker leben hier miteinander, und mit den Islamisten von Boko Haram sowie der Guerillatruppe MEND aus dem undurchdringlichen Delta des Nigerflusses zerren gleich zwei Terrorgruppen am Staatsgefüge. Das Land ist ein Hexenkessel – und Lagos liegt an seinem Siedepunkt.
Gestern Abend war es spät geworden im ehemaligen Kolonialgefängnis. Mitten in Downtown Lagos klafft dieses Loch zwischen den heruntergekommenen 1970er-Jahre-Wolkenkratzern. Zur Kolonialzeit hatten die Briten hier Gefangene wie Hunde eingesperrt. Heute ist der Ort eine nationale Gedenkstätte namens Freedom Park. Auf der Dachterrasse des kleinen Gebäudes in der Mitte des Parks schubberten an diesem Abend angeschickerte Paare über den Dancefloor. Eine Party der Kulturelite: Verleger, Künstler, reiche Mäzene. Der DJ hatte nicht viel zu tun. Denn er spielte ausschließlich Afrobeat-Stücke von Fela Kuti, und die sind meist eine Viertelstunde lang. Viel Zeit für Pinkelpausen.
Der Popstar, der während der Militärdiktaturen Soldaten als „Zombies“ verhöhnte
Der Nigerianer Fela Kuti ist der bis heute größte afrikanische Popstar aller Zeiten. Der Dauerkiffer erfand die Funk-Variante Afrobeat, trat am liebsten in weißen Glitzeranzügen auf und heiratete mal 27 Frauen auf einen Schlag. Er mischte sich stets auch in die Politik seines Landes ein und hatte etwa den Nerv, in Nigerias Militärdiktaturen die Soldaten als „Zombies“ zu verhöhnen. 1997 starb er an Aids. Heute wird er vom Staat fast kaputt geknuddelt. So hat die Regierung Kutis Wohnhaus in ein Museum verwandelt und den Mann zum „kulturellen Erbe“ erklärt.
Irgendwann sang die ganze Party auf dem Dach im Freedom Park lauthals mit. „Zombie no go think, unless you tell am to think“, schmetterten sie Kutis Militärschmähung. Es war ein bisschen wie auf der Geburtstagsparty der eigenen Eltern, wenn alle betrunken sind und sich peinlich benehmen. Zum Abschluss schoss jemand in den Betonschluchten eine Silvesterrakete ab. Die grün-weiße Feuerblume spiegelte sich in den Bürofenstern.
Beim Anflug auf Lagos kurz vor Sonnenuntergang, hat man noch einen Überblick: bis zum Horizont ein Meer von Lichtern, in der Mitte ein Bündel von Hochhäusern, dazwischen ein Geflecht aus Kanalarmen, Inseln, Hafenbecken und Brücken. Lagos ist eine Lagunenstadt, ein afrikanisches Venedig, ins Gigantische aufgeblasen und einmal kräftig durchgeschüttelt. Steckt man dann erst mal drin, verliert man die Orientierung.
Wenn man auf dem Murtala Muhammed International Airport gelandet ist, dann schütteln sie einem im Flugzeug sehr kräftig die Hand: „Welcome to Lagos.“ Dann eine Fahrt durch die hereingebrochene Finsternis über die Third Mainland Bridge, funzelige Scheinwerfer, rasendes Tempo. Rechts Hütten auf dem Wasser, der schwimmende Slum Makoko. Selbst unter uns, auf den Pfeilern der zwölf Kilometer langen Brücke, die als Umgehungsstraße einfach ins flache Lagunenwasser geklotzt wurde, leben Menschen. Und weit vor uns glitzern Hochhäuser. Es ist eine Nachtfahrt durch Afro-Metropolis.
Jeder ist immer auf der Suche nach einem guten Geschäft
Ringsum sind sie jetzt also, diese energischen, sehr von sich überzeugten, aber auch sehr herzlichen Menschen, die man auf Deutsch wohl „Lagosianer“ nennen muss. „Centre of Excellence“ haben sie sich auf die Nummernschilder der Autos geschrieben. Statt „Hello“ sagt man meist direkt „You are welcome“. Und eine verbreitete Antwort auf Bitten ist ein dröhnendes „No wahala“, „Kein Problem“ in Pidgin, der kreativ korrumpierten, ausdrucksstarken Lokalversion von Englisch. Alle sind superherzlich, superoptimistisch. Und jeder ist immer auf der Suche nach einem guten Geschäft. Für dicke Bündel mit den meist speckigen Naira-Scheinen, der lokalen Währung, kriegt man alles in Lagos, die Stadt ist ein großes Goldgräbernest. Schon die Namen auf dem Stadtplan klingen wie von einer Piratenschatzkarte: Five Cowrie Creek, Banana Island, Tarkwa Bay. Kein Wunder, denn Lagos war schon immer eine Hafen- und Handelsstadt, nach allen Seiten offen, eine kulturelle Kontaktzone.
Hier sitzt darum auch die riesige nigerianische Musikindustrie, dren durchgestylte „Naija-Pop“-Produkte auf dem gesamten Kontinent führend sind. Man muss das so industriell formulieren, denn diese Musik hat nicht viel gemein mit Chikes rumpeliger Rhythmusschleife, die vor dem Krankenhaus durch die Straße hallt. „Naija“ ist Pidgin für Nigeria, und diese Musik ist eine slicke Mischung aus Hip-Hop und hochgezüchtetem House. Naija-Rapper wie Davido, P-Square und D’Banj oder die Sängerin Yemi Alade zeigen sich gern in Designerklamotten und italienischen Sportwagen – und tatsächlich verdienen die Stars und ihre Produzenten vermutlich nicht schlecht, denn Naija-Hits dominieren die Bars und Dancefloors von Senegal bis Simbabwe. In Lagos bemühen sich die zugehörigen Clubs wie etwa die Hochglanz-Disco Quilox um globalen Aufsteigerchic – mit VIP-Sitzecken voller weißer Ledersofas, Champagnerkübeln und zu kalt gedrehter Klimaanlage. Im Quilox („Where luxury becomes a lifestyle“) geben die einen die Öl-Dollars ihrer Eltern aus, während die anderen so tun oder zumindest davon träumen.
In der Nacht hat der Wüstenwind Harmattan Staub aus der Sahelzone nach Süden geblasen. Ein Grauschleier liegt nun über der Stadt, und sie sieht aus, als habe ihr jemand mit einem Bildbearbeitungsprogramm die Farben rausgedreht. Eine Fahrt durch das Zwielicht, vorbei an wuchtigen, heruntergekommenen Wolkenkratzern. Lagos hat so viel urbane Struktur wie kaum eine andere Stadt in Subsahara-Afrika. Oft ist diese Struktur marode bis kurz vorm Kollaps. Oft aber auch brandneu – wie die S-Bahn, die von den Chinesen in Rekordtempo auf Pfeilern über den Slums errichtet wird. Lagos ist apokalyptisch und aufstrebend zugleich, ein ständiges Werden und Vergehen. Mittendrin liegen gekenterte Tankschiffe, die wie harpunierte Wale aus Stahl aussehen und langsam zu Rost zerbröseln.
Der Verkehr auf den Straßen ist ein immerwährender „Go-slow“, wie sie hier Staus nennen, ein endloses Geramme, Gehupe und Geschiebe. Mohammadu Yahaya, genannt Mudi, fährt im blitzblanken schwarzen Audi TT vor. Er ist der 1970 geborene Sohn eines einflussreichen Ex-Ministers und arbeitet als Künstler, Filmemacher, Journalist, Fotograf. Nebenbei kämpft er mit einer Netzplattform und alternativen Medienprojekten gegen die Ungerechtigkeiten der herrschenden Klasse. Nicht immer zur Freude seines Vaters.
Kein Alkohol, aber so ziemlich jede andere denkbare Droge
Mudi, der ein traditionelles Gewand mit schwarzer Hipsterbrille kombiniert, ist ein glühender Fan von Fuji. Das ist eine ziemlich komplexe Partymusik, entstanden aus Improvisationen, mit denen früher nigerianische Muslime einander in der Fastenzeit vor Sonnenaufgang geweckt ha-ben. Über charakteristisch blubbernden Talking Drums eiert Gesang, der den muslimischen Norden des Landes widerspiegelt. Wenn die Muslime von Lagos, größtenteils Angehörige des Yoruba-Volks, eine Fuji-Party feiern wollen, sperren sie mit zwei großen Zelten eine ganze Straße ab. Im Menschenauflauf dazwischen wird kein Alkohol getrunken, stattdessen gibt es so ziemlich jede andere denkbare Droge. Dazu spielen Fuji-Bands endlos aneinandergereihte Stücke, die für Außenstehende schwer voneinander unterscheidbar sind. „Es kommt auf die Texte an“, erklärt Mudi grinsend.
Das war unterhaltsam, aber ermüdend. Wir sitzen trotzdem immer noch auf den halben Plastikstühlen herum. Chikes Beat läuft und wird noch die ganze Nacht weiterlaufen. Vier Takte vertrackte Billigsynthesizer-Drums, nackt, ohne jede Begleitung. Er ist letztlich das reizvollste Stück aktueller Musik, das wir in diesen Tagen in der Stadt zu hören bekommen. Fela Kuti: tot, musealisiert. Naija-Pop: hat seine Momente, geht nur ohne Champagnerallergie. Fuji: mitreißend, aber was macht man, wenn man kein Yoruba spricht? Es bleibt Chikes Loop. Und die Hoffnung auf mehr. Es muss irgendwo schon da sein, in diesem Wahnsinn von einer Stadt. Oder demnächst kommen. Bald tanzen alle. Und einer neben mir legt mir seinen Arm um die Schultern und sagt mit zufriedenem Armschwenk, der diese ganze gigantische, verworrene, unerfassbare Stadt um uns he-rum ebenfalls umarmt: „You see, this is Lagos.“