Eigentlich sollte Ruhe herrschen, hier unten am Wasser. Draußen auf dem Meer warten die Sambesi-Haie geduldig auf Surfer, an Land wiegen sich die Palmen, eine Brise trägt den meisten Autolärm davon. Es ist subtropisch entspannt hier an der Uferpromenade von Durban, der südafrikanischen Sonnenstadt am Indischen Ozean mit ihren 3,4 Millionen Einwohnern. Aber da rollen beständig diese Beats herab. Sie sind eher langsam, sie haben es nicht eilig, aber sie lassen sich nicht aufhalten. Und sie kommen von dort oben, von den runden Hügelchen rund um die Innenstadt, wo sich die Townships entlangschlängeln, die Vorstadt-Ghettos: mit lockerer Hand gestreute Wellblechhütten in allen Farben des Regenbogens, dazwischen gemauerte Sozialbau-Schachtelhäuschen, meist eng aufgereiht und oft schon wieder trostlos bröckelnd. Von den Hügeln also. Dann rauf da. Denn unten, das ist nur das Strand-und-Geld-Durban, oben aber, das ist das afrikanische Durban.
Hier oben sind die Beats dann auch nicht mehr zu überhören. Kein Wunder, denn sie sind in den vergangenen drei, vier Jahren in den Townships der Stadt entstanden, und sie sind die Basis einer Musik, die ziemlich sicher die erste elektronisch klingende Clubmusik des gesamten afrikanischen Kontinents ist. Die Musik nennt sich Gqom, manche sagen auch Gqomu oder Igqom, es ist ein lautmalerischer Ausdruck in der lokalen Sprache Zulu für das Geräusch, das entsteht, wenn ein schwerer Stein auf eine Fliese prallt: Bumm. Das Wort steht außerdem für einen Trommelschlag. Und ist für Nicht-Zulus nicht gerade leicht auszusprechen, denn es beinhaltet einen Gaumenschnalzer, bei dem man zugleich das G und das Q intoniert. Gqom!
Die Tracks dazu klingen wie unerbittlich dahinwalzende Panzerketten aus hohlen Trommeln, deren Offbeats immer wieder zu verrutschen scheinen. Darüber legen sich in stets neuen Schichten metallisch hallende Samples, etwa Schreie, Schüsse, Hundebellen, dazu Reihen von auf- und absteigenden Tomdrums. Es ist eine Form von Bassmusik, aber es gibt keine Basslinien, nur Bassdrums. Das Rückgrat bildet meist ein stehender Streicher-Drone. So entsteht ein nicht endender Spannungsaufbau – ohne Erlösung. In seiner Stoik ist das ziemlich aufpeitschend. Und bis auf monoton hingegrunzte Monstervocals, die sie in Durban „Ghost Chants“ nennen, oder vielleicht mal einen Zulu-Rap ist das Ganze überwiegend instrumental. „Fast keiner hat das Equipment, das nötig wäre, um Stimmen aufzunehmen“, sagt der Durbaner Julian Jude Smith, 19, der unter dem Namen Julz da Deejay Gqom-Tracks veröffentlicht.
Gqom ist ein apokalyptischer, grimmiger Sound von und für jene jungen (ausschließlich dunkelhäutigen) Südafrikaner wie Smith, die auch mehr als zwei Jahrzehnte nach dem Ende der Rassentrennung nicht sonderlich von der Weiterentwicklung des Landes profitiert haben. Inoffiziell sind zurzeit satte 40 Prozent der Bevölkerung arbeitslos, der Frust wächst. Zugleich spiegelt sich in der Musik auch die Düsterkeit, die sich nachts über die Townships legt, weil es häufig keine Stromversorgung gibt. Dann sieht es hier, in den Vorstädten von Südafrikas Glitzer-Metropolen, aus wie auf dem platten Land: ziemlich finster. Wie auch guter Techno destilliert Gqom aus dieser Finsternis Euphorie – nur dass hier statt Futurismus Nihilismus herrscht. Ästhetisch hat das mit nichts außerhalb des Landes zu tun, auch wenn man Parallelen zu Genres wie Trap, Footwork, UK-Funky oder Grime ziehen kann. Diese westlichen Genres aber kennt vor Ort niemand. Groß im schwarzen Südafrika sind stattdessen HipHop, britisch getrübter Remmidemmi-Trance sowie jener opulente Post-Masters-At-Work-Deephouse, den der Superstar-DJ Black Coffee so gern auflegt.
Endlos-Sessions im Keller
„In Durban kannst du aber keinen Deephouse spielen“, sagt Massive Q, „da schlafen alle ein.“ Der 20-jährige mit der ähm: massiven Figur ist der Kopf des Gqom-Produzententrios Rudeboyz. Zusammen mit seinen gleichaltrigen Bandkollegen Andile-T und Menchess wohnt er in den Townships von Durban, die drei sind Quasi-Nachbarn. Früher kam Andile immer auf dem Schulweg an Massives Haus vorbei und hörte Loops dort herausdonnern. „Eines Tages hab ich mal reingeschaut und ihn gefragt: Was machst Du da eigentlich die ganze Zeit? Das ist ja immer dasselbe“, sagt Andile. Der angehende Produzent, mit dem Billiglaptop auf den Knien, habe dann geantwortet, er mache Musik. „Für mich konnte das nicht sein, denn Musik muss man doch in einem richtigen Studio aufnehmen. Dachte ich damals“, sagt Andile und lacht. Dachte er damals. Inzwischen treffen sie sich immer bei Menchess, dessen Haus einen Keller hat. Sie bringen dann ihre Laptops mit und produzieren die ganze Nacht.
Wie die meisten Gqom-Produzenten hauen auch die Rudeboyz mit Fruity Loops quasi im Stundentakt neue Tracks zusammen. Manche tun es in Kellern, die meisten aber in ihren Schlafzimmern oder auf dem Sofa der Eltern, denn viele sind noch Schüler. So wie der 17-jährige Sboniso Brandon Luthuli alias Citizen Boy, der im Township Avoca Hills wohnt: „Ich produziere meine Tracks über die Lautsprecher des Fernsehers meiner Eltern“, berichtet er. Er besitzt keine Stereoanlage. Es ist wie 1997 beim ersten Album von Daft Punk: Was auf solchen Lautsprechern gut klingt, klingt überall gut. Wenn ein Track fertig ist, geht er darum an DJs zum Praxistest.
Es gibt in Durbans Innenstadt auch reguläre Clubs nach westlicher Vorstellung, die Gqom-Partys veranstalten, etwa die kleine „Club 101 Skhokho Music Lounge“ mit Bartresen, Lichtanlage, DJ-Booth. Eigentlich aber lebt die Musik in leergeräumten Sozialbauten in den Townships, paar Plastikstühle, Leuchtschlangen, schrottiges Soundsystem, los geht’s. Das nennen sie hier „Bang Houses“, und die sind manchmal nonstop geöffnet. Hier nehmen die Leute Exstasy, das auf Zulu „Qoh“ heißt. Tracktitel wie „Mitsubishi“ oder „Mercedes“ huldigen den Einprägungen beliebter Pillen. Die Leute tanzen dazu einen wiegenden Gummiknietanz namens Bhenga.
Wenn neue Tracks den Praxistest mit Qoh und Bhenga im Bang House bestanden haben, kommen die Minibusse ins Spiel: Kleinbus-Taxis, wie sie überall durch Afrika brettern, mit motzigen Slogans, Breitreifen, Alufelgen vor allem aber dicken Lautsprechern. Es sind quasi Sitzdiscos. Die Produzenten stecken den Fahrern auf USB-Sticks neue Stücke zu. „Die Taxis haben einen enormen Einfluss“, erklärt Massive Q. „Sie fahren den ganzen Tag dieselbe Route, immer hin und her, und wenn die Passagiere jeden Tag dieselben Stücke hören und die dann mögen, dann fragen sie irgendwann, was das denn ist.“ Auf der anderen Seite versuchen die Fahrer, mit fetten Beats Kunden anzulocken. „Inzwischen spielen alle Fahrer Gqom-Beats, weil sie wissen, dass ihr Taxi dann in einer Minute voll ist“, sagt Massive Q. Nur ältere Mitreisende meckerten vielleicht mal, dass es zu laut sei im Gqom-Mobil.
Steht dann endlich die Veröffentlichung an, speisen die Produzenten ihr Stück als Kostenlos-Download in labyrinthartige Online-Netzwerke ein. Dazu gehören Facebook- und Whatsapp-Gruppen, Soundcloud oder diverse Filehoster. Im Zentrum aber steht der Server Kasimp3.co.za. „Kasi“ ist ein Kosewort für die in der Apartheid angelegten Township-Ghettos. Auf dem Server finden sich riesige Berge von kostenlosen Gqom-MP3s. Sie sind meist auf niedriger Bitrate kodiert, was den Download erleichtern soll. Denn das Internet ist lahm in Durban, und die meisten hören die Stücke sowieso nur auf ihren Smartphones. Stimmt die Nachfrage, gibt es für die Produzenten DJ-Bookings – und vielleicht irgendwann mal einen Sponsorenvertrag von einem Mobilfunk-Anbieter oder einem Softdrink-Hersteller.
Der einzige Industriestaat
Gqom konnte vermutlich nur hier entstehen, in Südafrika, dem einzigen zumindest teilweise industrialisierten Staat Afrikas. Das Land ist so urbanisiert und auch so europäisiert wie kein anderes südlich der Sahara. Vielleicht auch deshalb verträgt sich Clubmusik von hier oft besser mit dem Geschmack in Europa und den USA als die Produktionen aus anderen Ländern. So ist Nigeria, das mit Südafrika um den Titel des afrikanischen Popmusik-Champions konkurriert, auf dem Kontinent sehr viel erfolgreicher. Aus Südafrika kommt dagegen auch Musik, die für europäische Ohren avantgardistisch klingt, etwa von Leuten wie Die Antwoord, Felix Laband, Culoe de Song, Spoek Mathambo oder Okmalumkoolkat mit seinen Hyperdub-Releases.
Ebenfalls im globalen Norden gefeiert wurde lange der südafrikanische House-HipHop-Hybrid Kwaito, bei dem Rapper Reime in lokalen Sprachen über synkopierte Beats legen. Die Musik galt als Soundtrack zum Zusammenbruch des rassistischen Apartheid-Regimes Mitte der Neunziger. Doch der gut gelaunte Kwaito und seine (US-inspirierten) Träume von sozialem Aufstieg, dicken Autos und Champagner wirken im heutigen Südafrika mit seinen Dauerkrisen immer weniger zeitgemäß. So ist denn diese Musik inzwischen vor allem etwas für Ältere, was bei der sehr jungen Landesbevölkerung heißt: Ü-30. „Und bei Kwaito hat immer noch jemand gesungen oder gerappt“, sagt Andile-T von den Rudeboyz. „Aber irgendwann konzentrierten sich die Produzenten mehr auf die Beats. Sie wollten es weiter runterstrippen.“
Die immer instrumentaleren Clubmusiken, die vor vielleicht acht, zehn Jahren an verschiedenen Orten des Landes entstanden, waren revolutionär für Afrika, wo vorher selbst jedes Housestück mindestens ein menschliches Element enthalten musste. Techno gab es schon gar nicht. Aber beispielsweise in der südafrikanischen Hauptstadt Pretoria programmierten Produzenten wie DJ Spoko, Aero Manyelo oder DJ Mujava damals einen immer spärlicher besungenen House-Stil, der den absurden Namen „Bacardi House“ verliehen bekam, weil die örtlichen Kleingangster dieses Getränk und diese Musik so gern kombinierten. Die Stücke, allen voran Mujavas 2008 auch bei Warp erschienener Hit „Township Funk“, hatten oft schon den stehenden String-Ton, der heute Gqom prägt.
Den Ball nahmen Durbaner Produzenten wie DJ Lag, DJ Lusiman oder Sbucardo da DJ, die heute als Gründerväter von Gqom gehandelt werden, wieder auf. Die genaue Genese des Genres ist umwölkt von Mythen und Gerüchten und damit unklar. Manche sagen, Gqom sei entstanden aus einem ähnlichen Genre mit dem noch schöneren Zulu-Namen „Sgxumseni“, wobei das „x“ für einen anderen Klicklaut steht als das „q“ bei Gqom. Das Wort ist für Europäer vollkommen unaussprechlich. Erste Vorläufer gibt es jedenfalls seit längerem.
Mit seiner freien Beatprogrammierung und seiner Lossagung von Kwaito und anderen Musiken des Landes stellt Gqom einen radikalen Bruch mit den Vorvätern dar. Es ist reine, idiosynkratische Beatwissenschaft, wenn auch durchaus ähnlich gebremst im Tempo und typisch schunkelig wie traditionelle Zulu-Popmusik-Genres, etwa Mbaqanga oder Kwela. Diesen alten Krams finden die meist jungen und fast ausschließlich männlichen Gqom-Produzenten aber eher langweilig, oder sie kennen ihn erst gar nicht. Im Gegenzug halten ihre Eltern dafür die Musik der Jungs für reinen Krach. Alles perfekt also für eine weitere Soundrevolution. Es ist „Musik für Zulus im Digitalzeitalter“, wie es der Urvater DJ Lag mal genannt hat. Aber diese Musik greift inzwischen auch auf andere der zahlreichen Volksgruppen des Landes über, etwa Xhosas oder weiße Südafrikaner.
So neu wie damals Jungle
Und nicht nur das. Rund drei, vier Jahre nach seinen Anfängen an der Südspitze des afrikanischen Kontinents ist Gqom jetzt auch in Europa angekommen. Vor allem in Großbritannien schlägt der Sound ein. Kein Wunder, schließlich kann man ihn durchaus als so aufregend und neu empfinden wie zu ihren Zeiten Jungle und zehn Jahre später Dubstep. Kode9 und andere Vorreiter bauen Gqom-Tracks schon seit einer Weile in ihre Sets ein. Anlass für die aktuelle Aufregung ist jedoch vor allem die erste auf physischem Tonträger erhältliche Gqom-Compilation, die Doppel-LP „Gqom Oh! The Sound Of Durban“ mit unter anderem den schon erwähnten Citizen Boy und Julz Da Deejay sowie mit Gruppen wie TLC Fam oder den Formation Boyz. Zusammengestellt hat sie der in London lebende Italiener Francesco Cucchi. Der drahtige Sportswear-Träger sammelt schon lange Jahre Musiken aus afrikanischen Ländern und hat bislang mit seinem Digitallabel Soupu Musik aus Westafrika veröffentlicht. Er war mal mit einer Frau verheiratet, die aus dem westafrikanischen Liberia stammt. Bei einem Besuch bei ihrer Familie dort haben sie ihm in der lokalen Sprache Kpelle den Namen gegeben, den er heute als DJ-Namen nutzt: Nan Kolè, was „weiser Mann“ bedeutet.
Eines Nachts Anfang 2015 wurde Cucchi von einem Freund mit einem Facebook-Post in ein Alice-im-Wunderland-Loch gelockt. Als die Nacht vorbei war, hatte er mehrere hundert Gqom-Tracks aus dem Netz gezogen. „Etwas ist zu mir gekommen“, erinnert er sich. „Ich war ziemlich aufgeregt, weil ich etwas gefunden hatte, was ich so noch nie gehört hatte.“ Cucchi kontaktierte seine Lieblingskünstler in Südafrika, doch die waren erst mal skeptisch, was denn der komische Weiße da von ihnen wolle. Erst über eine südafrikanische Freundin, die wie die Durbaner Zulu spricht, lief der Kontakt an. Aber damit waren die Schwierigkeiten nicht gelöst. So erwies es sich als problematisch, über das langsame Durbaner Internet hochauflösende Sounddateien für die Mastertapes in den Norden zu schaffen. Zudem haben die Fruity-Loops-User aus den südafrikanischen Schlafzimmern keine Ahnung von Soundstandards. Es war darum ein Horror, die Stücke klanglich fit für Vinyl zu machen, erzählt Cucchi. Ihm aber egal, er will diese Musik weltweit bekannt machen, als Fan. Aus Gesprächen hört man heraus, dass ihm die Produzenten dankbar dafür sind. Sie nennen ihn „Malumz“, was auf Zulu „Onkel“ bedeutet – für einen „Bruder“ empfinden sie den 36-Jährigen als zu alt. Er nennt sie im Gegenzug „Mshana“, Neffe.
Cucchi war noch nie in Durban, er hat aber seine erste Reise gebucht. Jetzt schon vor Ort ist der weltoffene und stets um originelle Ansätze bemühte Cómeme-Labelmitbetreiber Matias Aguayo. Er hat dort mit den Rudeboyz kollaboriert, die Ergebnisse gibt es demnächst zu hören. Von den Rudeboyz ist bereits 2015 eine gleichnamige EP bei dem Londoner Label Goon Club Allstars erschienen. Vor Ort in Durban ist Gqom schon dabei, sich etwas zu begradigen und zu kommerzialisieren, diese Art von Entwicklung geht halt schnell heute. Noch aber sind die Südafrikaner vollkommen überrascht von der Resonanz auf ihre Musik im globalen Norden. „Dieser Sound“, sagt Andile-T von den Rudeboyz, „war überhaupt nie dafür gedacht, Durban zu verlassen.“
Ein großes Dankeschön an Matias Aguayo, der für diesen Text die Rudeboyz interviewt hat.
Die „Rudeboyz EP“ von den Rudeboyz ist bei Goon Club All Stars erschienen. Die Doppel-LP-Compilation Gqom Oh! The Sound Of Durban ist bei Gqom Oh! erschienen. Auf Kasimp3.co.za finden sich tonnenweise kostenlose Tracks – in gemischter Qualität.