Chike sagt, ihm sei im Traum ein Beat erschienen. Als wir vorhin zurückkamen, mitten in der Nacht, da saßen er und seine Leute noch auf der Straße, soffen und hörten Musik. Also haben wir uns zu ihnen gesetzt, auf verkohlte Holzbalken und halbierte Plastikstühle. Irgendwann verschwand auch der Typ, der uns mit seiner Kalaschnikow bedroht hatte. Er war betrunken und brüllte, die anderen wimmelten ihn ab. War nur ein Soldat, der seine Knarre auf Wochenendausgang mitgenommen hat, sagten sie hinterher. Wollte nur nen dicken Max machen.
Nun sitzen wir bei Doctor, der älteren Frau, die neben ihrer Kühlkiste tanzt. Sie verkauft daraus Bier und ghanaischen Kräuterschnaps, der schmeckt wie Jägermeister mit Benzin. General ist da, der behauptet, er habe schon in mehreren Bürgerkriegen gekämpft. Obwohl es doch nur einen gab in diesem Land. Daneben Leo, ein alternder Riese, immer betrunken, aber zum Sterben herzlich. Und natürlich der vierschrötige Chike, Kopf der Truppe, der sagt, ihm sei letzte Nacht ein Riddim erschienen. Er hatte sich daraufhin tagsüber in sein kleines Studio gesetzt und den Beat aufgenommen. Der läuft jetzt hier, nachts auf der Straße, in voller Lautstärke. Obwohl gegenüber ein Krankenhaus ist. Ein Takt mit vertrackt synkopierten Billigsynthiedrums, nackt, ohne jede Begleitung. Endlos, im Loop, immer wieder.
Wir sind selber hergekommen, um Musik zu machen. In eine Mega-City mit 15 bis 20 Millionen Einwohnern, so genau weiß das keiner, aber sicher ist es die größte Stadt Subsahara-Afrikas: Lagos im westafrikanischen Nigeria. Eine Superlativ-Stadt in einem Superlativ-Staatsgebilde. Nigeria ist das bevölkerungsreichste Land des Kontinents und auch der wichtigste Ölproduzent, es generiert unglaubliche Geldströme. Es ist der einzige afrikanische Staat, der je Satelliten ins Weltall geschossen hat. Es ist ultradynamisch – aber auch extrem labil. Zerrissen von Korruption, Überbevölkerung, sozialer Ungerechtigkeit und ethnischen Konflikten. Mehr als 250 Völker leben hier unter einem Dach, mindestens zwei Unabhängigkeitsbewegungen zerren am Gefüge. Ein Hexenkessel – und Lagos liegt an seinem Siedepunkt, ist sein wirtschaftliches und kulturelles Zentrum. In den Sechzigern bis Achtzigern war die Stadt einer der wichtigsten Musiklieferanten des afrikanischen Kontinents. Darum sind wir hier. Denn Lagos ist eine Station des Projekts Ten Cities des Goethe-Instituts, das Produzenten, Musiker und DJs aus zehn afrikanischen und europäischen Städten miteinander kurzschließt und die Clubkulturen in Afrika und Europa in einem Theorieband untersucht und vergleicht.
Der berühmteste Sohn des Landes: ein Quasi-Punk
Vorher am Abend war es spät geworden im ehemaligen Kolonialgefängnis. Mitten in Downtown Lagos klafft dieses Loch zwischen den heruntergekommenen Siebzigerjahre-Wolkenkratzern. Zur Kolonialzeit hatten die Briten an diesem Ort Gefangene wie Hunde eingesperrt. Heute ist er eine nationale Gedenkstätte namens „Freedom Park“. Auf der Dachterrasse des kleinen Gebäudes in der Mitte des Parks schubberten an diesem Abend angeschickerte Herrschaften über den Dancefloor. Jahman Anikulapo, der große Mann des nigerianischen Kulturjournalismus, feierte seinen 50. Geburtstag. Zu Gast war die Kulturelite der Stadt. Die Party lief, aber der DJ hatte nicht viel zu tun. Denn er spielte ausschließlich Afrobeat-Stücke von Fela Kuti, und die sind meist eine Viertelstunde lang. Viel Zeit für Pinkelpausen. Die Damen und Herren, unter ihnen Fela Kutis älteste Tochter, kannten jede Zeile Pidgin-Englisch der Lieder auswendig. „If your head dey hot, na water go cool am“, sangen sie mit, „water him no get enemy.“ Ihre Stimmen echoten von den Hochhäusern. Irgendwann schoss jemand weiter hinten in den Betonschluchten eine Silvesterrakete ab. Die grüne Feuerblume spiegelte sich in den Fenstern.
Jahman Anikulapo, der Gastgeber, hatte sich einst dieses Autorenpseudonym zugelegt aus Verehrung für einen Mann, dessen voller Name ursprünglich Olufela Olusegun Oludotun Ransome-Kuti lautete. Kurz: Fela Kuti. Der bis heute größte afrikanische Popstar aller Zeiten wäre dieser Tage 75 Jahre alt geworden, wäre er nicht vorher an Aids gestorben. Irgendwann im Laufe seiner langen Karriere strich der Musiker einen Teil seines Nachnamens, Ransome, weil der ihn an das englische Wort für Freiheits- oder Lösegeld erinnerte. Ein Sklavenausdruck. Und nannte sich stattdessen „Anikulapo“, was in der lokalen Sprache Yoruba ungefähr bedeutet: „Der, der den Tod in der Tasche hat“. So war Fela Kuti – großspurig, konfrontativ, superegozentrisch, aber auch furchtlos und radikal, im Persönlichen wie Politischen. Der berühmteste, aber auch ein umstrittener Sohn des Landes, bis heute. Es ist ein Statement, sich nach ihm zu benennen.
Aber der Partygastgeber im „Freedom Park“ ist beileibe nicht der einzige Einwohner von Lagos, der den kontroversen Quasi-Punk Fela Kuti etwas mehr als 15 Jahre nach dessen Tod vergöttert. Jeder zweite Musiker, den man trifft, will mal bei Fela in der Band gespielt haben, oder zumindest fast gespielt haben. Dessen Begleitbands, vor allem Africa 70 oder Egypt 80, waren vielköpfige Ensembles. Aber doch nicht groß genug für die halbe Ü-40-Musiker-Community dieser Millionenmetropole. Gut, solche Geschichten bekommt man vor allem als Europäer aufgetischt, weil die Leute annehmen, man kenne Fela und sei dann beeindruckt. Aber selbst von staatlicher Seite wird Fela Kuti, der zeitlebens sämtliche Politiker als korrupt geißelte und den Nerv hatte, in Nigerias diversen Militärdiktaturen das Militär lächerlich zu machen, seit Neuestem fast kaputtgeknuddelt. So hat die Regionalregierung Kutis Wohnhaus im Stadtteil Ikeja in ein Museum für dessen altes Widerstandscamp „Kalakuta Republic“ verwandelt. Und den Mann zum „kulturellen Erbe“ erklärt.
Im selben Stadtteil füllt Fela Kutis ältester Sohn Femi regelmäßig den Veranstaltungsort New Afrika Shrine, den er nach dem Club seines Vaters benannt hat: eine zu den Seiten offene Mehrzweck-Veranstaltungshalle mit Wellblechdach, weißen Plastikstühlen, Billardtischen und der Möglichkeit, von der Polizei unbehelligt zu kiffen. Femi spielt hier mehrmals die Woche, wenn er in der Stadt ist. „United we stand, divided we fall, Africa must unite“, steht auf einem Schild im Shrine. Gute, alte Zeiten des Panafrikanismus. Heute ist Afrobeat in Lagos etwas ähnliches wie im Westen bestimmte Formen von Punk: eine Musik, die früher mal hip, krass und rebellisch war – zu der aber inzwischen vor allem eine elitäre Intellektuellen-Minderheit in der eigenen wilden Vergangenheit schwelgt, als man noch gegen den Staat war und nicht Teil davon.
„Fela ist allgegenwärtig, immer noch, man kommt als Musiker nicht um ihn herum“, bestätigt Adegoke Odukoya. Er ist besser bekannt als Ade Bantu, ein Nigeria-Deutscher, der in den Neunzigern mit Bands wie Weep Not Child Deutschrap miterfunden hat und um die Jahrtausendwende das Musik- und Sozialprojekt Brothers Keepers ins Leben rief. Heute ist Bantu, der Deutsch ebenso fließend spricht wie Yoruba und natürlich Englisch, in Lagos ein erfolgreicher Musiker und als Juror einer Casting-Show ein TV-Star. „Aber Afrobeat entwickelt sich nicht mehr weiter“, kritisiert er. „Da wurde eine Formel entwickelt, und die funktioniert jetzt so.“ Leidet die Stadt musikalisch gesehen also unter der Last, die ihr der 1997 gestorbene Fela Kuti hinterlassen hat? „Ja und nein“, sagt Bantu. „So einfach ist das nicht. Lagos ist extrem komplex, sehr vielschichtig. Es gibt sich nicht so leicht her zum Verstandenwerden, man muss sich bemühen.“
Es gibt nur Irrtümer
Beim Anflug auf Lagos kurz vor Sonnenuntergang hat man noch einen Überblick: ungefähr im Knick Afrikas, am Ufer des Golfs von Guinea, bis zum Horizont ein Meer von flackernden Lichtern. In der Mitte ein Bündel von Hochhäusern. Dazwischen ein Geflecht aus Kanalarmen, Inseln, Hafenbecken, Brücken und Buchten. Lagos ist eine Lagunenstadt, ein afrikanisches Venedig, ins Gigantische aufgeblasen und einmal kräftig durchgeschüttelt. Steckt man dann erst mal drin, verliert man komplett die Orientierung. Es gibt strikte Regeln, ausgefeilte Ordnungen, hochdifferenzierte Organisationssysteme, nach denen die Stadt für ihre Bewohner funktioniert. Aber sie sind nicht leicht zu erkennen. Fast 20 Millionen Menschen leben hier, und ebenso viele Meinungen, Geschichten, Geheimnisse, Versionen von Geschehnissen. Bilde sich also niemand ein, er könne die objektive Wahrheit über diese Stadt erzählen, auch nicht dieser Text. Es gibt keine.
Wenn man auf dem Murtala Muhammed International Airport gelandet ist, dann schütteln sie einem im Flugzeug erst mal sehr fest die Hand: „Welcome to Lagos.“ Man spricht das natürlich englisch aus, nicht portugiesisch mit „sch“ am Ende, auch wenn die Stadt ihren Namen im 15. Jahrhundert von portugiesischen Seefahrern bekommen hat. Dann eine Fahrt durch die hereingebrochene Finsternis über die 3rd Mainland Bridge, rasendes Tempo, funzelige Scheinwerfer. Rechts Slumhütten auf dem Wasser. Und selbst unter uns, auf den Pfeilern der zwölf Kilometer langen Brücke, die als Umgehungsstraße einfach ins flache Lagunenwasser geklotzt wurde, wohnen Menschen. Es ist eine Nachtfahrt durch Afro-Metropolis. Es gab Zeiten, da sperrten die Area Boys, die jugendlichen Kleingangster der Stadt, einfach die achtspurige Brücke ab und raubten dann in aller Ruhe die Autofahrer aus, die dort feststeckten.
Im Gegensatz zu anderen Exkolonien in Afrika, wo es etwa weiße Kenianer oder Euro-Angolaner gibt, hat sich in Lagos nie eine nennenswerte europäische Community angesiedelt. Das Klima ist einfach zu hart: superschwül, superheiß. So trifft man auch heutzutage, selbst wenn man mehrere Tage in der Stadt unterwegs ist, kaum einen anderen Weißen, die hier Oyibo heißen. Stattdessen massenhaft der durchgeknalltesten, unterhaltsamsten, freundlichsten Menschen, die man auf Deutsch wohl „Lagosianer“ nennen muss. Nigerianer insgesamt gelten als die pro Kopf größten Biertrinker in Afrika – dabei ist die Hälfte der Bevölkerung muslimisch und trinkt gar nicht. Lagos hat seinen Anteil daran. Viele Menschen in der Stadt sprechen nigerianisches Pidgin, die kreativ korrumpierte, ausdrucksstarke Version von Englisch, die in ganz Westafrika verstanden wird. Eine eigenständige Kreolsprache, die UN haben sogar die Deklaration der Menschenrechte darin übersetzt.
Krasser Dialekt, engagierte Biertrinker, große Egos, wirtschaftlich sehr erfolgreich – unterm Strich sind die Bewohner von Lagos damit so etwas wie die Münchner Nigerias. Auch sie lieben sich selbst mehr als ihre Nachbarn sie lieben. „Centre of Excellence“ haben sie sich auf die Auto-Nummernschilder geschrieben. Aber auf der anderen Seite sagt man statt „Hallo“ hier meist direkt sehr herzhaft „You are welcome“. Und eine verbreitete Antwort auf Bitten ist ein dröhnendes „No wahalla“, kein Problem. Alle sind superherzlich, superoptimistisch, es geht immer nur bergauf, schon morgen wird alles superprima sein.
Und jeder ist Käufer und Verkäufer, immer auf der Suche nach einem guten Geschäft. Für dicke Bündel mit den meist speckigen Naira-Scheinen, der lokalen Währung, kriegt man alles in Lagos. Die Stadt ist ein großes Goldgräbernest. Schon die Namen von Stadtteilen oder anderen Örtlichkeiten klingen wie von einer Piratenschatzkarte: Five Cowries Creek, Banana Island, Tarkwa Bay. Kein Wunder, denn Lagos war schon immer eine Hafen- und Handelsstadt, nach allen Seiten offen, eine kulturelle Kontaktzone. So werden denn seit Jahrhunderten auch sämtliche kulturellen Artefakte routiniert aufgesaugt, zu Produkten umgeformt und zu Geld gemacht.
Hier geht es wirklich noch ums Geld
Popmusik aus Nigeria dudelt in ganz Subsahara-Afrika aus Bars, Diskos, Fernsehgeräten, Minibus-Autoradios. Das Land konkurrierte früher mit der Demokratischen Republik Kongo, die zwischenzeitlich mal Zaire hieß, und streitet heute mit Südafrika um den Titel des führenden Popmusik-Produzenten in Afrika. Wichtigstes Exportprodukt ist dabei Naija-Pop, eine leichte Bubblegumpop-Variante. „Naija“ ist Pidgin für Nigeria, und bei Popmusik geht es hier wirklich noch um Geld, um einen fast kontinentgroßen Markt. Nigerianische Mainstream-Popprodukte richten sich an eine sehr breite Käuferschicht. Vielleicht klingt deshalb das meiste für europäische Ohren so überraschend harmlos – vor allem, wenn man bedenkt, wie dynamisch diese Stadt und ihre Bewohner doch sind.
„Schon mit frühem Rap Anfang der Achtziger war es schwierig in Lagos“, donnert der Musikproduzent, DJ und Radiomoderator Gboyega Oyedele alias Afrologic im Tonfall eines US-Südstaaten-Predigers. „Es war den Leuten zu krass, zu verstörend.“ Das Publikum habe lange gebraucht, bis es sich an diese neue Musik gewöhnt hat. Afrologic wurde vor 50 Jahren in Lagos geboren und ist ein passionierter Verschwörungstheoriemurmler. So ist er sich sicher, dass im Grunde alle Sounds der klassischen Roland-Drummachine TR-808, bis heute Goldstandard bei Elektronikmusik, im Grunde aus Nigeria gestohlen wurden. Afrologic ist als Produzent Teil des Ten-Cities-Projekts der Goethe-Institute und kennt elektronische Musik von Kraftwerk über Chicago-House bis Post-Dubstep. Darum macht er sich auch lustig über den bekannten US-amerikanischen Houseproduzenten Osunlade, der zwar einen auf Yoruba-Priester macht und ein gleichnamiges Label betreibt, aber sich noch nie in Nigeria habe blicken lassen. Dessen Name bedeutet „Osun ist meine Krone“. Das ist ein Fluss, ausgesprochen „Oschun“, heilig in der Yoruba-Religion. Kein bescheidener Name für einen von außen.
Aber geradliniger House und Techno, und seien sie auch so sämig wie der Deephouse von Osunlade, haben in Lagos eh keine Chance, sagt Afrologic. „Die Leute wollen hier immer eine Band sehen“, erklärt er. „Denn afrikanische Musik hat meist mit Call-and-response zu tun, mit Interaktion zwischen lebendigen Musikern und dem Publikum.“ Immerhin aber fusionieren Leute wie Wizkid, der Mädchenschwarm 2face Idibia oder D’banj – momentan einer der größten Stars des Kontinents und gesignt auf dem Label von Kanye West – ihren Autotune-R’n’B und das, was mal HipHop war, mit hochgezüchtetem EDM-House. So wie es gerade überall auf der Welt geschieht. Das Ergebnis: ultraslick, aber seelenlos. Ebenfalls wie überall auf der Welt.
Ein Hoffnungsschimmer im Graubeige
Gegen Morgen klingelte das Telefon, immer wieder. Eine Stimme auf Yoruba, eindringlich. Irgendwas zurückgemurmelt, aufgelegt. Wieder Klingeln, die Stimme drängelte sich in den Traum. Vielleicht eine Strafe für Vorurteile, Unverständnis, Unaufmerksamkeit? Irgendwann ging endlich die Sonne auf. Der Wüstenwind Harmattan hatte Staub aus der Sahelzone nach Süden geblasen. Ein Grauschleier lag über der Stadt, und sie sah aus, als habe ihr jemand an einem Bildbearbeitungsprogramm die Farben rausgedreht. Eine Fahrt durch das Graubeige, zu einer Verabredung. Auf der Leitplanke der Autobahn ein Mann, komplett in schwarz, auf dem Kopf ein schwarzer Helm mit geschlossenem schwarzen Visier, in der Hand lässig ein Sturmgewehr. Ein bisschen wie die Tie-Fighter-Piloten aus „Star Wars“. Ach was, nur ein Bundespolizist, sagte jemand.
Weiter über wuchtige Autobahnüberführungen, vorbei an riesigen, runtergekommenen Wolkenkratzern, manche leer und verfallend, afrikanische Schwestern der pittoresken Ruinen von Detroit. Im Wasser immer wieder riesige gekenterte Tankschiffe, die wie harpunierte Wale aus Stahl auf der Seite liegen und langsam zu Rost zerbröckeln. Lagos hat so viel urbane Struktur wie kaum eine andere Stadt in Subsahara-Afrika. Oft ist sie marode bis kurz vorm Kollaps. Oft aber auch brandneu – wie die S-Bahn, welche die Chinesen gerade in Rekordtempo auf Pfeilern über den Slums errichten. Lagos ist apokalyptisch und optimistisch zugleich, ein ständiges Werden und Vergehen, vor allem aber immer neues Werden.
Der Verkehr dabei ein immerwährender Go-slow, wie sie hier die Staus nennen. Die bestehen vor allem aus einem schier endlosen Strom von Danfos, den gelben oder weiß-grünen Minibus-Taxis. In die Zwischenräume quetschen sich noch Okada Riders, Motorradtaxis. Ein endloses Geramme, Gehupe und Geschiebe. Mohammodu Yahaya aber, genannt Mudi, fuhr dann im schwarzen Audi TT vor. Er ist der Sohn eines einflussreichen Ex-Ministers und Luftwaffen-Vizemarschalls. Nun kämpft Mudi, Jahrgang 1970, mit einer Netzplattform und alternativen Medienprojekten gegen die Ungerechtigkeiten der herrschenden Klasse. Nicht immer zur Freude seines Vaters. Und er arbeitet als Künstler, Journalist, Fotograf.
Mudi, der traditionelles Gewand mit schwarzer Hipsterbrille kombiniert, ist auch stolz auf die afrikaweiten Erfolge von D’banj und Co. Im Herzen aber ist er glühender Fan von Fuji. Das ist eine hochkomplexe Partymusik, entstanden aus Improvisationen, mit denen sich früher die muslimischen Yoruba in der Fastenzeit vor Sonnenaufgang geweckt haben. Popularisiert und urbanisiert wurde sie seit Ende der Sechziger. Und inzwischen gibt es sie auch in aktuelle Popformen gegossen. „Eine fluide Musik, die alles Kulturelle integriert – wie die ganze Stadt“, erklärte Mudi. So finden sich in den schnellen, rhythmisch komplexen Beatverschachtelungen von Fuji zwischen Saworo-Tamburinen, Sekere-Shakern und den charakteristisch blubbernden Talking Drums auch hawaiianische Slidegitarren oder Akkordeons. Dazu Gesang in arabischer Tonalität, der den größtenteils muslimischen Norden des Landes widerspiegelt, wo auch der Harmattan herweht. Das Ergebnis: ein toll hybridisierter Sound, die erste mitreißende aktuelle Tanzmusik dieser Reise. „Früher“, bekräftigte Mudi, bevor er wieder in seinen Sportwagen stieg, „tanzten auf Fuji-Partys Frauen erst mit der linken, dann mit der rechten Arschbacke, während sie aus hocherhobenen Tierschädeln tranken.“ Es habe Drogen gegeben, Partyhopping die ganze Stadt rauf und runter, Feiern, deren Beschreibungen klingen wie aus Fantasy-Schundheftchen. Das war in den Neunzigern, während der Militärdiktatur von General Sani Abacha, als nichts mehr ging in dem Land, nur noch die Dekadenz.
Der Rest der Nacht
Das klang toll. Wir aber sitzen immer noch hier auf halben Plastikstühlen, mit den ganzen Gestalten. Chikes Beat läuft immer noch, er wird es die ganze Nacht noch tun. Wir rauchen afrikanische Wurzeln, die man getrocknet, gemahlen und fertig in Joints gedreht für kleines Geld gegenüber aus einem Loch in der Wand gereicht bekommt. Diese Wurzeln sollen, wie eigentlich alles in Nigeria, dem irgendeine Wirkung zugeschrieben wird, natürlich aphrodisieren. Tja. Vor allem machen sie angenehm leicht breit im Kopf. Der Riddim läuft, er läuft immer weiter. Er ist letztlich das überzeugendste Stück aktueller Musik, das wir in diesen Tagen in der Stadt zu hören bekommen. Fela: tot, musealisiert. Fuji: hinreißend, aber seine große Zeit war in den Neunzigern. Naija-Pop: vergiss es. Es bleibt dieser Loop. Und die Hoffnung auf mehr. Es muss irgendwo schon da sein in diesem Wahnsinn von einer Stadt. Oder demnächst kommen. Bald tanzen alle. Und einer neben mir legt mir irgendwann seinen Arm um die Schultern und sagt mit zufriedenem Armschwenk, der diese ganze gigantische, verworrene, unerfassbare Stadt um uns herum ebenfalls umarmt: „You see, this is Lagos.“